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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Christopher die Opfer für seine entsetzliche Sammlung gefunden hatte. Wie viele Stunden mußte er hier verbracht haben, umwölkt von den dunklen Gespenstern seines Irrsinns, während er die häßlichen Tiere ihrer Glieder beraubte? Mit einemmal spürte sie das zwingende Bedürfnis, sich zu übergeben.
    »Dort drüben«, rief Martin. Seine Hand wies auf eine schmale Luke in der Decke, jenseits des Dickichts aus Spinnweben. »Vielleicht kommen wir dadurch aufs Dach.«
    Gwen nickte aufgeregt. Wenn sie es bis dorthin schaffen konnten, hatten sie wieder eine Chance. Vielleicht würden sie dem Wahnsinnigen durch ein Fenster oder eine andere Dachluke entkommen können.
    Sie und Martin stürmten gleichzeitig vorwärts und begannen, mit den Händen eine Bahn durch das klebrige Gewebe zu schlagen. Bereits nach wenigen Sekunden hingen ihnen Spinnenfäden im Haar und in der Kleidung, feine Netze bedeckten ihre Haut, und Gwen versuchte verzweifelt, ein Krabbeln in ihrem Nacken zu ignorieren. Nur nicht darüber nachdenken, schoß es ihr durch den Kopf.
    Dann war der Weg zur Dachluke frei, sie drehte sich zu ihren Schwestern um – und sah voller Entsetzen, wie Christopher hinter den Mädchen auftauchte!
    Gwen schrie gellend auf, Miranda erwachte aus ihrer Erstarrung, fuhr herum, sah, wer da hakenschwingend auf sie zu stürmte und riß geistesgegenwärtig ihre jüngere Schwester an der Hand nach vorne. Christophers Waffe fuhr mit einem trockenen Splittern in den Boden, genau dort, wo Nicole eben noch gestanden hatte. Schreiend rannten die Mädchen zu Gwen und Martin hinüber, die sie schützend hinter sich schoben.
    Gwen war überzeugt, daß die Katastrophe nun nicht mehr abzuwenden war, daß Christopher sie alle töten oder wenigstens schwer verletzen würde. Doch genau in diesem Moment blieb ihr Stiefbruder stehen. Er sah erst sie und die anderen an, betrachtete dann den Spiegel. Sein Unterkiefer klappte nach unten wie ein ausgeleiertes Scharnier.
    »Was habt ihr getan?« flüsterte er.
    Gwen und Martin warfen sich einen flüchtigen Blick zu. In seinen Augen las sie das gleiche, was auch sie in diesen Sekunden dachte:
    Jetzt nur nicht aufgeben! Sie nickte ihm zu, und langsam, ganz langsam, um ihren Gegner nicht zu beunruhigen, schob Martin sich nach hinten, bedeutete den Mädchen, ruhig zu bleiben, und näherte sich der Dachluke.
    Christopher schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr habt das Gewebe zerstört!«
    Martin erreichte die Luke und öffnete sie. Regen prasselte in sein Gesicht. Mit einem Blick zurück vergewisserte er sich, daß Christopher noch immer wie angewurzelt an der Tür stand. Martin hob Nicole hoch, lächelte ihr aufmunternd zu und schob sie durch die Luke aufs Dach. Dann tat er dasselbe mit Miranda.
    »Das Gewebe zerstört«, stammelte Christopher immer wieder.
    Martin gab Gwen einen Wink, aber sie schüttelte den Kopf und gab ihm lautlos zu verstehen, daß auch er hinausklettern sollte. Sie würde nachkommen. Auf ihrem Gesicht erschien ein vages Lächeln.
    Widerwillig stieg Martin durch die Luke nach oben.
    Im selben Augenblick hob Christopher den Haken, schlug ihn in blinder Wut gegen die Wand und schrie, wie Gwen noch nie jemanden hatte schreien hören. »Sterben!« brüllte er mit sich überschlagender Stimme. »Dafür müßt ihr alle sterben!«
     
    »Du hast recht«, sagte die Gewebefrau und lächelte traurig. »Ihr Verhalten muß bestraft werden.«
    Christopher nickte verzweifelt. Er sah, wie Gwen, die neben der Gewebefrau stand, einen leichten Schritt nach vorne machte.
    »Soll ich sie sofort töten?« fragte er und konnte seinen Zorn kaum noch bändigen. Der Haken schien in seiner Hand zu zucken, als könne er kaum noch erwarten, endlich zuzuschlagen.
    Die Erscheinung nickte. »Sofort!«
    Christopher hob seine Waffe und wollte dem Befehl gehorchen, doch in diesem Moment geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte.
    Gwen sprang ihm entgegen.
    Sie wußte nicht, was Christopher in dem Spiegel zu sehen glaubte, aber sie ahnte, daß es etwas war, das die Verantwortung für die Ereignisse trug, ein Wunschbild seines kranken Hirns, das all die dunklen Wünsche in ihm aufspürte und ans Tageslicht zerrte.
    Kurz entschlossen gab sie dem schweren Spiegel einen Stoß.
    Christopher sah, wie die Gewebefrau plötzlich nach vorne stürzte, dem Boden entgegen, hörte, wie sie hoch und kreischend aufschrie, wie ihre Züge sich verzerrten und auf die hölzernen Dielen krachte. Mit einem unbeschreiblichen Laut prallte

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