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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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uralten Göttern ein Opfer darbringt. Regen und Sturm tobten um seinen Körper, der tödliche Haken wies zum Himmel, und Christopher schrie kreischend hinter ihr her, jenseits aller Menschlichkeit, eine Bestie ohne Verstand.
    Da rissen die Wolken auf.
    Es donnerte erneut, und gleichzeitig fraß sich ein greller Blitz durch die Schwärze, vielfach verästelt wie eine glühende Klaue, jagte auf sie herab, suchte sich den höchsten Punkt – und schlug ein mit all seiner vernichtenden Kraft.
    Christophers Körper stand plötzlich in Flammen, blaues Feuer loderte um seine Glieder, verzehrte was es fand, verwandelte ihn in etwas Schwarzes, Dürres, Totes.
    Gwen heulte auf, umfangen von ekstatischem Triumph, schrie und brüllte in einem Anfall von Erleichterung und Pein, bis sie spürte, daß ihre ausgelaugten Glieder ihr nicht mehr gehorchten.
    Dann kam zum letztenmal ein Donner über sie, lauter als alles, was sie je gehört hatte, und er betäubte ihre Sinne mit der Macht der Elemente.
     
    Der Traum kam noch Jahre später, als Gwen längst eine erwachsene Frau und ihre Schwestern verheiratet waren.
    Sie sah sich bei Nacht im Ostflügel ihres alten Hauses, streifte durch die einsamen Gänge und atmete die Dunkelheit der staubigen Zimmer. Sie dachte an ihre Eltern, die getrennt in ihren Räumen lagen, und an Flagg, der seit den Geschehnissen jener Nacht spurlos verschwunden war.
    Oft ging sie in diesem Traum den langen Korridor entlang und folgte der Biegung an seinem Ende. Sie kam dann zu dem hohen Fenster und dem uralten Steinhof, der dort im Zentrum des Flügels lag wie ein finsteres Auge.
    Manchmal sah sie hinab, preßte ihr Gesicht gegen die Scheibe, wie sie es getan hatte, als sie noch schlafwandelte, und obwohl sie es niemals beschworen hätte, glaubte sie hin und wieder etwas Bleiches auf dem schattigen Grund des Hofes zu erblicken: einen Körper, dürr und eingefallen wie eine Mumie, die Leiche eines Mannes, der schon ausgesehen hatte wie ein Toter, als er noch lebte – bevor er sich in den Schacht stürzte und seiner Suche ein Ende machte.
    Wie immer war das der Augenblick, in dem sie erwachte, und wie in jeder Nacht regte sich Martin neben ihr im Bett, lächelte verschlafen, nahm sie in seine Arme, und manchmal, nur manchmal, half ihr das zu vergessen.

Grand Guignol 1899

      
    Obwohl es nur noch wenige Tage bis Weihnachten waren, und die Ziegeldächer und Mauerkronen unter leuchtenden Hauben aus Schnee schliefen, kochte Paris wie die Brühe im Kessel eines Alchimisten. Gleichwohl, es war kein zähflüssiger, träger Sud in diesem Kessel, sondern ein strudelndes, prickelndes Gebräu, aus dem die Glieder von Männer, Frauen und Kindern wirbelten und die alten Straßen der Stadt in ein brodelndes Chaos aus Körpern verwandelten.
    Paris feierte.
    Seit Wochen fieberten die Menschen dem Beginn des neuen Jahrhunderts entgegen, und je schneller die Dezembertage des Jahres 1899 jenem historischen Augenblick entgegeneilten, desto aufgeregter, wilder und ausgelassener wurden die Straßenfeste und improvisierten Umzüge, welche die engen Gassen und Boulevards verstopften. Manch einer war jetzt dankbar für die geräumigen Straßenanlagen, die kurz vor Ende des Zweiten Kaiserreichs entgegen allen Protesten angelegt worden waren, und nicht nur die Heerscharen von Taschendieben, die wie räuberische Ameisen über die Stadt ausschwärmten, befanden sich in Hochstimmung.
    Theater, Varietes, Music Halls und Schausteller verzeichneten einen enormen Aufschwung ihrer Einnahmen, und nicht wenige Vertreterinnen des leichten Gewerbes nutzten die Gunst der Stunde, um ihre Preise um saftige Aufschläge zu erhöhen, ohne damit der Nachfrage Abbruch zu tun.
    Die Menschen entkalkten ihre starren Umgangsformen und Tagesabläufe, und selbst die Unglücklichen, die Einsamen, denen der strenge Winter wie selten zuvor zu schaffen machte, glaubten manchmal unter der Oberfläche ihrer alltäglichen Trübsal Hoffnungsschimmer aufblitzen zu sehen, so, als bedeute der Aufbruch ins neue Jahrhundert zugleich auch einen Übergang zu einer besseren, glücklicheren Zeit.
    Die Menschen strömten von überallher in die geheime Hauptstadt Europas und verloren sich im Straßenlabyrinth der Arrondissements, vermischten sich mit den Einheimischen und warteten darauf, mit ihren eigenen Sinnen den Pulsschlag dieses Herzens der Welt zu verspüren.
    Nur wenige von ihnen durchschauten die Fassade jener Tage.
    Sie kratzten das glänzende Eis von den Scheiben

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