Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
zielstrebig in die Büsche abhaute.
Judith erwartete ihn bereits an der Tür. »Geht es deiner Mutter wieder besser?«
Er kämpfte dagegen an, doch er konnte es nicht unterdrücken. Kummer und Schuld überwältigten ihn. Die ganze Misere, in der er gerade versank. Judith griff nach seiner Hand und umarmte ihn. Diesmal war er es, der Trost brauchte.
Sie führte ihn zur Couch, wo sie sich setzten. Während aus dem Radio Fleetwood Macs
Go your own way
klang, hielt Judith ihn noch immer. Es war ein angenehmes Gefühl, weil es ihm vorgaukelte, dass er nicht allein war, zumindest nicht in diesem Moment der Schwäche. »Die Ärzte haben nicht mehr viel Hoffnung«, sagte er endlich.
»Das heißt aber auch: Es gibt noch ein wenig Zuversicht.«
Er lächelte halbherzig über ihren Versuch, ihm Mut zu machen. Es war eben nur ein Versuch. »Die Wahrheit ist eine andere.«
»Und zwar?«
Die Tür der Datsche war nur angelehnt. Sie knarzte, als Bernie sich ins Ferienhaus schlich. Er beschnupperte eifrig alle Ecken und Vorsprünge. Als er das Zimmer hinreichend erkundet hatte, ließ er sich mit einem zufriedenen Schnaufen vor den prasselnden Kamin plumpsen.
Kalkbrenner sah die Wahrheit klar vor sich: Käthe Maria starb nach einem erfüllten Leben. Sie schlief einfach ein. Judith dagegen hatte einen geliebten Menschen verloren, der mit nie vermuteten Lügen abgetreten war. Ihr Mann war umgebracht worden.
Kalkbrenner wischte sich die Augen. Sein Gefühlsausbruch war ihm angesichts dessen, was Judith bisher hatte durchleiden müssen, peinlich. »Die Sache mit deinem Mann«, sagte er. »Sie zieht immer größere Kreise.«
»Müssen wir darüber reden?«
»Es ist wichtig.«
»Wenn es nach mir geht: Schließ die Akten und vergiss alles.«
»Du hast mich darum gebeten, den Mörder deines Mannes zu finden.«
»Da wusste ich noch nicht, warum man ihn umgebracht hat.«
»Aber das wissen wir bis heute nicht genau.«
»Ich glaube, ich möchte es auch nicht mehr erfahren.«
»Judith«, sagte er und bemühte sich um einen vernünftig klingenden Tonfall, »ich bin Polizist, und es ist meine Aufgabe, den Mörder zu finden. Ich kann deine Verärgerung verstehen, aber …«
»Verärgerung?«, spuckte sie voller Abscheu aus. »Verärgerung ist wohl der falsche Ausdruck, meinst du nicht auch? Und Wut passt auch nicht wirklich. Ich weiß nicht mehr, was ich empfinde. Hass?« Sie stöhnte laut auf. »Eigentlich ist es mir egal. Ich möchte damit nichts mehr zu tun haben. Das ist es nicht wert. Ich habe viel zu lange mein Leben vergeudet.«
Der Oldiesender im Radio war zu
Thorn in my side
der Eurythmics übergegangen.
A bundle of lies. You know that’s all that it was worth. I should have known better. But I trusted you at first.
Noch immer hatte Judith einen Arm um seine Schulter geschlungen, der andere streichelte mittlerweile seinen Oberschenkel. Es war nicht unangenehm. Alles andere als das. »Hat dein Mann jemals den Namen Melanie Hauser erwähnt? Oder Betty?«
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich scharf darauf bin, zu erfahren, was Matthias mit ihr zu schaffen hatte.«
»Das wissen wir auch noch nicht.«
»Und warum fragst du mich dann nach ihr?«
»Wir haben heute Morgen ihre Leiche gefunden.«
»Das tut mir leid.«
Es klang teilnahmslos aus ihrem Mund, aber aus einer anderen Intention heraus als beim
Apollo
-Geschäftsführer Lehnhoff. Deswegen war Kalkbrenner ihr nicht böse. »Sie arbeitete in einem SM-Club, zu dem sich dein Mann am Montag vor seinem Tod hat fahren lassen. Er heißt
Dark Heaven
.«
Weil Judith darauf nicht reagierte und nur stumm ins Kaminfeuer starrte, fügte er hinzu: »Aber zuletzt war sie im
Apollo,
das ist das Großraumbordell am Potsdamer Platz
.
Es gehörte bis zu seinem Tod Samuel Dossantos.«
Jetzt schaute sie auf. Lange Zeit sagte sie kein Wort. Lediglich ihre Finger fuhren über seine Schulter, ein ständiges, gedankenverlorenes Auf und Ab. Bis sie ihn mit ihrer nächsten Frage überraschte: »Bist du gerne Polizist?«
115
Von Hirschfeldt trat nachdenklich ans Fenster. Blechlawinen wälzten sich Richtung Avus. Immer wieder hallte ein Hupen von den tristen grauen Häuserfassaden wider.
Catharina Dossantos stand am Bürgersteig. Sie nippte an ihrem Wasserglas, blickte zum Abendhimmel hinauf, strich sich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Die Geste wirkte verzweifelt, verletzlich und voller Angst. In gewisser Weise war Frau Dossantos ihm in diesem Augenblick sehr ähnlich. Auch er
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