Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
reagierten, holte Harenstett den
Berliner Kurier
aus seiner Tasche. Er deutete auf eine Schlagzeile:
Der Ehrenbürger vom Kiez.
»Damit ist Miguel Dossantos gemeint. Samuels Vater.«
Kalkbrenner und Berger beugten sich über die Zeitung. Miguel Dossantos gehörte diversen Vereinen und Verbänden an, spendete regelmäßig Geld für wohltätige Zwecke, förderte Kultureinrichtungen im Kiez und sponsorte Veranstaltungen für benachteiligte Jugendliche. Zuletzt hatte er in Neukölln den Aufbau einer Sozialeinrichtung für Straßenkinder mit über 500000 Euro unterstützt. Kalkbrenner hatte den Text über die Einweihung bereits am Morgen während des Frühstücks überflogen. »Scheint ein netter Kerl zu sein.«
»Ja, durchaus. Er gefällt sich in dieser gesellschaftlichen Gutmenschenrolle. So sehr, dass er jetzt, auf seine alten Tage, die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und seinen Namen in
Michael
ändern lassen will.«
»Was spricht dagegen?«
»Nichts.« Es klang, als gäbe es ein ganzes Universum voller Vorbehalte.
Die Kellnerin erkundigte sich mit pampiger Stimme nach ihren Wünschen. Ebenso wie Bequemlichkeit war Freundlichkeit Mangelware in den Mitte-Kneipen. Allerdings gaben die willkürlich vereinten Stile, die mit ein paar Neonröhren auf modern getrimmt worden waren, den ahnungslosen Touristen das Gefühl, einmal die Luft des hippen Großstadtlebens zu atmen. Ohne zu zögern, zahlten sie hier den doppelten Preis für Cappuccino, Latte macchiato oder andere Dinge, die der vermeintlich urbane Hippster zu sich nahm.
Dr. Salm, der normalerweise wahrscheinlich in anderen Lokalen verkehrte (in solchen, in denen sich auch vermeintliche Ehrenbürger wie Miguel Dossantos aufhielten, vermutete Kalkbrenner), verzichtete dankend auf ein Getränk und beschäftigte sich stattdessen mit seinen verdreckten Golfschuhen. Kalkbrenner bestellte sich ein Selters, Berger eine Cola, Harenstett einen Kaffee.
»Einen Cappuccino?« Die Kellnerin friemelte mit Daumen und Zeigefinger an ihrem Nasenring herum.
»Einen Kaffee.«
»Milchkaffee?«
»Nein, nur einen stinknormalen Kaffee.«
Pikiert rauschte sie davon. Während sie auf die Getränke warteten, beobachteten sie die hektische Betriebsamkeit ihrer Kollegen auf der anderen Straßenseite. Zwei der Löschfahrzeuge bahnten sich einen Weg durch den stockenden Verkehr. Die Arbeit der Feuerwehr war anscheinend beendet.
Harenstett griff erneut in seine Tasche und warf schwungvoll einen Stapel Papier auf den Tisch. Er klopfte mit der Hand darauf. »Das ist alles, was wir über Miguel Dossantos wissen.«
Kalkbrenner und Berger schauten sich das beigeheftete Foto an. Die Aufnahme war unscharf, offenbar war sie während einer verdeckten Observation entstanden. Sie zeigte einen Mann in legerem Outfit: Rollkragenpullover, Stoffhose und Slipper, trotz der pixeligen Qualität als teure Designerware zu erkennen. Er hatte eine schmale Nase, ein fliehendes Kinn und grau meliertes Haar. Sein Gesicht besaß eine unnatürliche Glätte; ganz offensichtlich hatte die plastische Chirurgie da etwas nachgeholfen. Sein Alter war schwer zu schätzen.
Nachdem sie das Bild studiert hatten, sagte Harenstett: »Dossantos ist Unternehmer. Großunternehmer.«
»In Sachen Immobilien«, fügte Dr. Salm hinzu.
Harenstett bedachte ihn mit einem irritierten Blick. »So könnte man das auch sehen«, fuhr er fort, »aber eigentlich geht es um Prostitution. An 70 Prozent der Berliner Clubs, Bars, Bordelle und Studios ist er beteiligt – und wenn es nur in Form einer Teilhaberschaft ist, in deren Rahmen er kassiert. Ein anderes Wort dafür ist Schutzgeld. Kurz gesagt: Dossantos ist
die
Nummer eins in Berlin.« Er lachte bitter auf. »Ja, ein echter Ehrenbürger, wenn es um Sex geht.«
»Wie hat er es so weit gebracht?«, erkundigte sich Berger, musste allerdings einige Sekunden auf Antwort warten.
Die gepiercte Kellnerin schlappte heran und knallte ihnen ihre Bestellungen vor die Nase. Die Getränke schwappten über. Braune Kringel färbten das Papier. Bevor der Kaffee noch mehr Schaden anrichten konnte, hob Harenstett ihn an den Mund. Jetzt tropfte er von der Tasse auf seine Jeans, aber er achtete nicht auf das Malheur.
Stattdessen berichtete er weiter: »Miguel Dossantos hat die vergangenen 30 Jahre genutzt, um sein Terrain in Berlin abzustecken. Er kam Anfang der 50er mit seinen Eltern nach Deutschland und machte eine sportliche Karriere, die ihn erstmals nach Westberlin führte. Er war noch
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