Gier, Kerstin
»Ich könnte dich mit einem Tritt in den Plexus solaris außer
Gefecht setzen oder dir mit einem einzigen Schlag das Genick brechen.«
»Und ich
könnte um Hilfe rufen!« Bis jetzt hatte unsere Unterhaltung im Flüsterton
stattgefunden, so in etwa musste es sich anhören, wenn Schlangen sich
miteinander unterhielten, zisch, zisch, zisch.
Was würde
passieren, wenn ich die anderen Bewohner dieses Hauses auf den Plan riefe?
Wahrscheinlich würde Charlotte mir dann nicht das Genick brechen, aber alle
würden wissen wollen, was ich in den Bademantel eingewickelt hatte.
Charlotte
schien meine Gedanken zu erraten, sie lachte höhnisch, während sie näher
tänzelte. »Bitte! Schrei doch!«
»Ich würde
es tun«, sagte Xemerius.
Aber das
musste ich gar nicht mehr, denn hinter Charlotte tauchte, wie immer nahezu aus
dem Nichts, Mr Bernhard auf. »Kann ich den Damen irgendwie behilflich sein?«,
erkundigte er sich und Charlotte schnellte herum wie eine erschrockene Katze.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, sie wolle Mr Bernhard in den Plexus
solaris treten, so rein aus Reflex, aber obwohl ihre Fußspitze zuckte, tat sie
es glücklicherweise doch nicht.
»Ich
bekomme auch des Nachts manchmal Hunger und würde mich bereit erklären, einen
kleinen Snack zuzubereiten, wenn ich ohnehin einmal dabei bin«, fuhr Mr
Bernhard ungerührt fort.
Ich war
über seinen Anblick so erleichtert, dass ich in hysterisches Kichern ausbrach.
»Ich habe mir gerade schon etwas aus der Küche geholt.« Mit dem Kinn zeigte ich
auf das Bündel vor meiner Brust. »Aber Karate Kid hier ist total unterzuckert,
sie hat einen Snack dringend nötig.«
Charlotte
schlenderte betont langsam zu ihrem Zimmer zurück. »Ich behalte dich im Auge«,
sagte sie und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger anklagend auf meine
Brust. Vermutlich würde sie gleich anfangen, irgendetwas zu deklamieren, so
theatralisch sah sie aus. »Und Sie auch, Mr Bernhard«, sagte sie allerdings
nur.
»Da müssen
wir uns aber vorsehen«, flüsterte ich, als sie ihre Zimmertür geschlossen
hatte und der Flur wieder im Dunkeln lag. »Sie kann nämlich Tadsch Mahal.«
»Auch
nicht schlecht«, sagte Xemerius anerkennend.
Ich
presste mein Bademantelpäckchen fest an mich. »Und sie hat einen Verdacht! Wenn
sie nicht sogar weiß, was wir gefunden haben. Bestimmt verpetzt sie uns bei den
Wächtern, und wenn die hören, dass wir den ...«
»Es gibt
sicher geeignetere Orte und Uhrzeiten, um das zu diskutieren«, unterbrach mich
Mr Bernhard ungewöhnlich streng. Er hob Nicks Taschenlampe vom Boden auf,
knipste sie an und ließ den Lichtkegel Charlottes Zimmertür hinauf bis zu dem
halbrunden Oberlicht gleiten. Es war gekippt.
Ich
nickte, zum Zeichen, dass ich verstanden hatte: Charlotte konnte jedes Wort
hören. »Ja. Sie haben recht. Gute Nacht, Mr Bernhard.«
»Schlafen
Sie gut, Miss Gwendolyn.«
Meine Mum
brauchte am nächsten Morgen keinen Kran, um mich zu wecken. Ihre Taktik war
perfider. Sie benutzte diesen fiesen Weihnachtsmann aus Plastik, den Caroline
letztes Jahr beim Wichteln gewonnen hatte und der, einmal aufgezogen, unentwegt
mit einer grässlich krächzenden Plastikstimme »Hohoho, merry Christmas
everyone« von sich gab.
Am Anfang
versuchte ich noch, den Lärm durch die Bettdecke abzudämpfen. Aber nach
sechzehn Hohohos gab ich auf und schlug die Bettdecke zurück. Was ich jedoch
gleich darauf bereute, denn mir fiel ein, was heute für ein Tag war. Der Ball.
Wenn nicht
noch ein Wunder geschah und ich eine Möglichkeit fand, vor heute Nachmittag zu
meinem Großvater ins Jahr 1993 zu springen, würde ich ohne seine Informationen
dem Grafen gegenübertreten müssen.
Ich biss
mir auf die Zunge. Ich hätte doch heute Nacht noch einmal in der Zeit reisen
sollen. Andererseits wäre mir dann vermutlich Charlotte auf die Schliche
gekommen, so gesehen war es die richtige Entscheidung gewesen.
Ich
taumelte aus dem Bett und hinüber ins Bad. Ich hatte nur drei Stunden
geschlafen - nach Charlottes nächtlichem Auftritt war ich auf Nummer sicher
gegangen und unter Xemerius' Anleitung tatsächlich in diesen Wandschrank gestiegen.
Dort hatte ich die Rückwand eingedrückt und in den Abseiten dem Krokodil den
Bauch aufgeschlitzt, um den Chronografen darin zu verstecken.
Danach war
ich völlig erschöpft in den Schlaf gesunken, was wenigstens den Vorteil hatte,
dass ich nicht schlecht träumte. Genauer gesagt träumte ich gar nicht. Im
Gegensatz zu Tante Maddy.
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