Gier, Kerstin
war weitaus länger und schmerzhafter gewesen.
Gideons
Gesicht tauchte wieder aus seinen Händen empor. Wie grün seine Augen in dem
blassen Gesicht leuchteten! Mir fiel wieder ein, was er als Letztes zu mir
gesagt hatte, und ich versuchte abermals, mich aufzusetzen, doch Dr. White
hinderte mich daran.
»Kann ihr
vielleicht mal jemand diese unsägliche Perücke abnehmen?«, sagte er unwirsch.
Gleich mehrere Hände begannen, die Haarnadeln aus meiner Frisur zu ziehen, und
es war ein herrliches Gefühl, als die Perücke abgestreift wurde.
»Vorsichtig,
Marley«, warnte Falk de Villiers. »Denken Sie an Madame Rossini!«
»Ja, Sir«,
stammelte Marley und ließ die Perücke vor Schreck fast fallen. »Madame Rossini,
Sir.«
Mr George
entfernte die Haarnadeln aus meinem Knoten und löste mit sanften Fingern den
Zopf. »Besser so?«, erkundigte er sich. Ja, das war viel besser.
»Zottelliese
saß allein, auf dem kleinen Tischelein, Kleid und Hut, stehn ihr gut, sie ist
frohgemut«, sang Xemerius albern. »Uuuh, wenn du nur einen Hut hättest! Wäre
die Rettung für den Bad Hair Day, oder? Ach, ich bin so froh, dass du noch
lebst und ich mir keinen neuen Menschen suchen muss, dass ich lauter dummes
Zeug rede. Kleine Zottelliese, du.«
Der kleine
Robert kicherte.
»Kann ich
wieder gucken?«, fragte James, wartete aber die Antwort nicht ab. Nach einem
Blick auf mich hielt er sich erneut die Augen zu. »Potzblitz! Das ist ja
wirklich Miss Gwendolyn. Verzeiht mir, dass ich Euch nicht erkannt habe, als
der junge Dandy Euch vorhin an meiner Nische vorbeigetragen hat.« Er seufzte.
»Das an sich war schon seltsam genug. Man sieht ja in diesen Mauern sonst nie
mehr anständig gekleidete Menschen.«
Mr Whitman
legte einen Arm um Gideons Schulter. »Was ist denn nun genau passiert, Junge?
Konntest du dem Grafen unsere Botschaft übermitteln? Und hat er dir
Instruktionen für das nächste Treffen gegeben?«
»Holt ihm
einen Whisky und lasst ihn für ein paar Minuten in Ruhe«, knurrte Dr. White,
während er zwei kleine Pflasterstreifen auf meine Wunde klebte. »Er steht
unter Schock.«
»Nein.
Nein. Es geht schon wieder«, murmelte Gideon. Er warf noch einen kurzen Blick
zu mir hinüber, nahm den versiegelten Brief aus seiner Rocktasche und reichte
ihn Falk.
»Komm!«,
sagte Mr Whitman, zog Gideon auf die Füße und führte ihn zur Tür. »Oben in
Direktor Gilles' Büro ist Whisky. Und auch eine Couch, falls du dich kurz
hinlegen willst.« Er sah sich um. »Falk, begleitest du uns?«
»Aber
sicher«, sagte Falk. »Ich hoffe, der alte Gilles hat genug Whisky für uns
alle.« Er drehte sich zu den anderen um. »Und ihr bringt Gwendolyn auf keinen
Fall in diesem ramponierten Zustand nach Hause, ist das klar?«
»Klar,
Sir«, versicherte Mr Marley. »Glasklar, Sir, wenn ich das so formulieren darf.«
Falk
rollte die Augen. »Sie dürfen«, sagte er und dann verschwand er mit Mr Whitman
und Gideon durch die Tür.
Mr
Bernhard hatte seinen freien Abend, deshalb machte Caroline mir die Tür auf
und redete sofort ohne Punkt und Komma auf mich ein: »Charlotte hat das
Feenkostüm für die Party anprobiert, es ist wunderschön und erst hat sie
erlaubt, dass ich ihr die Flügel anstecke, aber da hat Tante Glenda gesagt,
ich soll mir gefälligst die Hände waschen, ich hätte doch bestimmt wieder
schmutziges Viehzeug gestrei...« Weiter kam sie nicht, weil ich sie packte und
so fest umarmte, dass sie keine Luft mehr bekam.
»Ja,
zerquetsch sie ruhig!«, sagte Xemerius, der hinter mir ins Haus geflattert kam.
»Deine Mum kann ja einfach noch ein Kind kriegen, wenn das hier kaputt ist.«
»Mein
süßes, allerliebstes, goldiges, kleines Schwesterchen«, murmelte ich in
Carolines Haar und musste gleichzeitig lachen und weinen. »Ich hab dich so
lieb!«
»Ich hab
dich auch lieb, aber du pustest mir ins Ohr«, sagte Caroline und befreite sich
vorsichtig. »Komm! Wir sind schon beim Essen. Zum Nachtisch gibt es
Hummingbird-Bakery-Schokoladentorte!«
»Oh, ich
liebe, liebe, liebe Chocolate Devil's Food Cake«, rief
ich. »Und ich liebe das Leben, das einem all diese wundervollen Dinge
schenkt!«
»Geht's
vielleicht auch eine Nummer weniger übertrieben? Man denkt ja, du kommst gerade
von einer Elektroschockbehandlung.« Xemerius nieste griesgrämig.
Ich wollte
ihm einen tadelnden Blick zuwerfen, aber ich konnte ihn nur liebevoll
anstrahlen. Meinen süßen, kleinen, griesgrämigen Wasserspeierdämon. »Ich hab
dich auch lieb!«,
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