Gier, Kerstin
Arista nickte mir zu. Etwas steif ging ich
auf Gideon zu.
»Und es
herrschte Totenstille im Raum«, flüsterte Xemerius vom Kronleuchter. »Alle
Augen ruhten auf dem Mädchen in der pissgelben Bluse ...«
Argh, er
hatte recht. Ich ärgerte mich, dass ich mich vorhin nicht noch schnell geduscht
und umgezogen hatte - die blöde Schuluniform war so ziemlich das am wenigsten
Kleidsame, das ich besaß. Aber wer hätte auch ahnen können, dass ich heute
Abend noch mal Besuch bekommen würde? Und zwar Besuch, bei dem mir mein
Aussehen wichtig war?
»Hi«,
sagte Gideon und lächelte zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte.
Ich
lächelte verlegen zurück. »Hi, Gollum.«
Gideons
Lächeln vertiefte sich.
»Selbst
die Schatten an den Wänden verstummten, während die beiden einander
anschauten, als hätten sie sich gerade auf ein Pupskissen gesetzt«, sagte
Xemerius und flatterte vom Kronleuchter hinter uns her. »Romantische Geigenmusik
setzte ein, dann taperten sie nebeneinander aus dem Zimmer, das Mädchen mit
der pissgelben Bluse und der Junge, der dringend mal wieder zum Friseur
müsste.« Er flatterte hinter uns her, aber an der Treppe bog er nach links ab.
»Der kluge und schöne Dämon Xemerius wäre ihnen ja als Anstandswauwau gefolgt,
wenn er nach so viel Zurschaustellung von Gefühlen nicht erst einmal seinen
unbändigen Appetit hätte stillen müssen! Heute würde er wohl endlich diesen
fetten Klarinettenspieler fressen, der in Nummer 23 herumspukte und den ganzen
Tag Glen Miller verhunzte.« Er winkte noch einmal, dann verschwand er durch das
Flurfenster.
In meinem
Zimmer angelangt, sah ich erleichtert, dass mir glücklicherweise die Zeit
gefehlt hatte, die wunderbare Ordnung, die Tante Maddy am Mittwoch geschaffen
hatte, wieder zu zerstören. Gut, das Bett war ungemacht, aber die paar
Klamotten, die herumlagen, hatte ich mit zwei, drei Handgriffen
zusammengerafft und auf den Stuhl zu den anderen geworfen. Dann drehte ich mich
zu Gideon um, der den ganzen Weg hinauf geschwiegen hatte. Vermutlich war ihm
gar nichts anderes übrig geblieben, weil ich nämlich - immer noch außer mir vor
Verlegenheit - nach Xemerius' Abflug ohne Punkt und Komma auf ihn eingeredet
hatte. Wie unter Zwang hatte ich gequasselt und gequasselt, und zwar über die
Bilder, an denen wir vorbeikamen. Über jedes einzelne der ungefähr elftausend
Stück. »Das sind meine Urgroßeltern - keine Ahnung, warum sie sich in Öl haben
malen lassen, damals gab es auch schon Fotografen. Der Dicke auf dem Hocker
hier ist Urururgroßonkel Hugh als kleiner Junge, zusammen mit seiner Schwester
Petronella und drei Kaninchen. Das ist eine Erzherzogin, deren Namen ich gerade
nicht parat habe - nicht verwandt, aber auf dem Bild trägt sie ein Collier aus
dem Familienbesitz der Montroses, deshalb darf sie hier hängen. Und jetzt sind
wir im zweiten Stock, daher kannst du auf allen Bildern in diesem Korridor
Charlotte bewundern. Tante Glenda geht jedes Quartal mit ihr zu einem
Fotografen, der angeblich auch die königliche Familie fotografiert. Das hier
ist mein Lieblingsfoto: Charlotte als Zehnjährige mit einem Mops, der
Mundgeruch hatte, was man Charlotte irgendwie ansieht, findest du nicht?« Und
so weiter und so fort. Es war schrecklich. Erst in meinem Zimmer konnte ich endlich
damit aufhören. Aber nur, weil hier keine Bilder hingen.
Ich zog
die Bettdecke glatt, wobei ich mein Hello-Kitty- Nachthemd
unauffällig unter dem Kopfkissen verschwinden ließ. Dann drehte ich mich um und
schaute Gideon abwartend an. Jetzt konnte er ruhig auch mal was sagen.
Was er
nicht tat. Stattdessen lächelte er mich weiter an, als könne er nicht so recht
glauben, was er sah. Mein Herz machte einen Galoppsprung, um dann mal kurz
auszusetzen. Na toll! Einen Degenstich steckte es locker weg, aber mit Gideon
war es völlig überfordert. Vor allem, wenn er so guckte wie jetzt.
»Ich
wollte dich vorher anrufen, aber du bist nicht ans Handy gegangen«, sagte er
schließlich doch.
»Der Akku
ist leer.« Er hatte mitten im Gespräch mit Leslie in der Limousine seinen Geist
aufgegeben. Weil Gideon wieder schwieg, nahm ich das Handy aus der Rocktasche
und begann, nach dem Ladekabel zu suchen. Tante Maddy hatte es ordentlich
zusammengerollt und in eine Schreibtischschublade gesteckt.
Gideon
lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Das war ein ziemlich merkwürdiger
Tag, oder?«
Ich
nickte. Das Handy war ordnungsgemäß eingesteckt. Weil ich nicht wusste, was
Weitere Kostenlose Bücher