Gier
dem Zementboden. Er bückte sich, und während er die Leiche umdrehte, begann der Raum vor seinen Augen zu tanzen. Er begegnete Kyle Ritchies Blick aus einem Gesicht ohne Gesichtszüge. Es war völlig aufgequollen. Die Augen waren weit aus den Höhlen getreten.
Neben Ritchies Hand lag ein Zettel, und in seiner Hand steckte ein Kugelschreiber. Kowalewski berührte ihn. Er steckte fest wie in einem Schraubstock.
Er hob den Zettel an, ging mit der Taschenlampe dichter heran, konnte jedoch nichts lesen. Der Zettel schwankte wie ein Schiff im Sturm. Er konnte einfach nicht lesen, was darauf stand.
Alles schwankte. Und der Geruch war jetzt sehr stark.
Dann sah er neben Kyle Ritchies Leiche einen kleinen Gegenstand auf dem Boden, der aussah wie ein Eishockeypuck. Aus ihm strömte etwas heraus. Kowalewski betrachtete ihn etwas zu lange. Alles schwankte etwas zu lange, als dass er es gleich begriffen hätte.
Aus dem Ding strömte Gas.
Kowalewski stolperte um die Tischtennisplatte herum und stürzte in Richtung Treppe, die inzwischen nicht nur zitterte oder schwankte, sondern eine gewaltige Schlagseite bekommen hatte, wie ein Schiff im Orkan. Er taumelte nach oben.
SchlieÃlich hatte er den Flur erreicht. Atmete intensiv. Er stürzte auf die Haustür zu. Versuchte das Gas durch Sauerstoff zu ersetzen. Hyperventilierte bewusst. Er blieb auf der Holzveranda stehen. Seine Knie schlotterten.
Kowalewski schaute hinauf zum Himmel. Die Sterne waren wieder deutlich zu sehen, sie hinterlieÃen Lichtspuren auf seiner Netzhaut. Er steckte die Pistole zurück ins Achselhalfter, schaltete die Taschenlampe aus und spürte, wie sich das Gas über seine Lungen in seinen Blutkreislauf ausbreitete. Er spürte, wie ihn mit jeder Sekunde zunehmend die Kräfte verlieÃen.
Nicht hier stehen bleiben, dachte er. Nicht mit einer Schusswaffe und einer Taschenlampe hier stehen bleiben. Keine Anklage für das hier kassieren. Nicht in den USA.
Mit aller Willenskraft, die er noch aufbringen konnte, arbeitete er sich über die vernachlässigte Rasenfläche hinunter auf die StraÃe. Er spürte, dass er taumelte und stolperte. Er musste nur so viel Abstand wie möglich zwischen sich und dieses Höllenhaus bringen. So weit wie möglich kommen, bevor er fiel.
In einiger Entfernung sah er eine gröÃere StraÃe. Die flackernden StraÃenlaternen verbreiteten einen tanzenden Lichternebel. Eine Oase.
Er fiel mehrere Male auf die Knie. Das letzte Mal neben einem Gully, dessen Deckel etwas verschoben war. Die Bereiche seines Gehirns, die noch nicht lahmgelegt waren, reagierten. Sie reagierten rational.
Während sich die Welt um ihn herum drehte, riss er sich die Jacke vom Leib. Es gelang ihm, sein Achselhalfter aufzuknöpfen, und lieà es in den Gully gleiten. Dabei betrachtete er seine Hand. Wie stark sie zitterte. Sie zitterte so sehr, dass er die Buchstaben auf dem Zettel, der in seiner Hand geradezu festgewachsen zu sein schien, nicht erkennen konnte.
Er schaltete die Taschenlampe wieder ein, schob sie sich in den Mund, hielt den Zettel mit beiden Händen fest und konzentrierte sich intensiv darauf, Kyle Ritchies Handschrift zu entziffern. Er las: »Rianna Tinsley«.
Dann lieà er den Zettel und die Taschenlampe in den offenen Gully hinabgleiten, kam auf die FüÃe, zog sich die Jacke wieder an und musterte nahezu amüsiert seine blutenden Knie. Es gelang ihm mit dem FuÃ, den Gullydeckel wieder an seinen Platz zu schieben. AnschlieÃend richtete er seinen Blick fest auf das verführerische Licht, auf die Oase dort in der Ferne.
Er kämpfte sich weiter.
Und dachte die ganze Zeit: Rianna Tinsley, Rianna Tinsley, Rianna Tinsley.
Wie ein Mantra.
Ein Mantra auf dem Weg zur Oase.
Sein Blickfeld war inzwischen stark eingeschränkt, aber das, was er sehen konnte, drehte sich, schwankte hin und her, wurde immer verzerrter.
In dem Moment, als er die gröÃere StraÃe erreichte, fiel er. Haltlos und geradewegs auf die Fahrbahn.
Das Letzte, was Marek Kowalewski hörte, war, wie sein Wangenknochen brach, als er auf den Asphalt aufschlug.
Der Prozess
Riga, 12. April
Montagmorgen um Punkt neun Uhr saà ein absolut fassungsloser Staatssekretär des lettischen Umweltministeriums in einem Vernehmungsraum des Rigaer Polizeipräsidiums und wurde durch eine Spiegelwand beobachtet. Er bewegte sich ununterbrochen, befingerte den leeren Tisch,
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