Gier
schlug ein Bein über das andere in jeder erdenklichen Art und Weise und kratzte sich am Kinn und am Hinterkopf. Aber all das war völlig normal. So benahmen sich alle, die mit Vernehmungssituationen nicht vertraut waren, egal, ob sie schuldig oder unschuldig waren. Weitaus interessanter war hingegen sein Blick.
»Ich weià nicht recht«, sagte Laima Balodis und sah hinüber zu Jorge Chavez.
Er begegnete ihrem Blick und hatte das Gefühl, sie zum ersten Mal richtig wahrzunehmen. Der gestrige Abend schien eine Reihe von Hürden zwischen ihnen eingerissen zu haben. Sie hatten zwar darauf verzichtet, ebensolche Mengen wie Bendiks Vanags in sich hineinzukippen, aber dieser verfluchte lettische Wodka enthielt neben bromierten Flammschutzmitteln und perfluorierten Tensiden offenbar auch so einige Prozente Alkohol, denn im Gleichschritt mit dem pikanten chemischen Geschmackserlebnis begann sich unverkennbar ein Rausch den Weg zu bahnen. Während Vanags über die Situation Lettlands redete, ohne dass ihn der Alkohol in irgendeiner Weise zu beeinflussen schien, bekamen seine Zuhörer immer weniger mit. Doch was durch den zunehmenden Nebel noch zu ihnen hindurchdrang, war besorgniserregend. Das Land stand in der Tat kurz vor dem Untergang, wofür Vanags fieberhaft den Schuldigen suchte. Das war nicht gerade einfach. Es spielten so viele Faktoren eine Rolle, es gab so unglaubliche viele Parameter, und plötzlich schien alles zusammenzuhängen, doch je mehr Wodka die Kehlen hinunterrann, desto schwieriger wurde es, die Verbindungen und die Schnittstellen zu erkennen. Begleitet von Vanagsâ relativ verhaltenen Sticheleien, torkelten Chavez und Balodis gemeinsam hinaus in die herbe Rigaer Nacht. Sie hatten die Arme umeinandergelegt, doch seltsamerweise gab es nicht den Hauch einer erotischen Anziehung zwischen ihnen, wie Chavez bemerkte. Er hatte seine Sara und konnte wirklich keine bessere Partie machen, aber eine gewisse Anziehungskraft konnte ja dennoch entstehen. Dazu kam es jedoch nicht, und das erstaunte ihn weniger, als es ihn freute. Sie konnten Arm in Arm durch die Nacht wandern, ohne dass etwas anderes als Vertrautheit aufkam.
Von allen Opcop-Mitgliedern in Den Haag kannte Chavez Laima Balodis noch am wenigsten, was hauptsächlich daran lag, dass sie die Stillste war. In letzter Zeit hatte er zunehmend gelernt, diese Zurückhaltung zu schätzen, auch wenn er deshalb nur wenig über Balodisâ Vergangenheit wusste. Es gab so vieles, was er sie fragen wollte. Doch gestern Abend hatte er nichts gefragt. Bevor er schlieÃlich in einem Hotelzimmer einschlief, in dem sich alles um ihn herum drehte, hatte er noch festgestellt, dass er Sara Svenhagen und seine Kinder unendlich vermisste.
Jetzt erwiderte er den schwer zu deutenden Blick von Laima Balodis und entgegnete: »Ich weià es auch nicht. Seine Nervosität sagt nichts aus. Der Blick auch nichts. AuÃer, dass er hin- und herflackert.«
»Was uns zumindest sagt, dass er kein erfahrener Verbrecher ist.«
»Was wir ja bereits wussten«, warf Bendiks Vanags ein, der ein Stück entfernt gegen die Wand gelehnt dastand. »Schön zu sehen, dass ihr es geschafft habt, aus dem Bett zu kommen, meine Herrschaften. Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet bis zum Mittag liegen bleiben.«
»Ich würde eher sagen, dass wir es nicht wussten«, entgegnete Chavez ruhig. »Er ist noch nicht lange in den Klauen der Mafia, das steht fest. Bergmanis ist ein moderner Europäer, nicht älter als fünfunddreiÃig und als unverdrossener Umweltaktivist bekannt. Das zusammen würde die perfekte Tarnung für einen richtigen Schurken abgeben, aber dieser Mann hier ist kein richtiger Schurke.«
»Wir gehen rein«, sagte Balodis, »und du, Vanags, bleibst hier.«
Bendiks Vanags riss die Augen auf und starrte sie an. Sie würdigte ihn keines Blickes, sondern öffnete lediglich die Tür zum Vernehmungsraum und ging hinein. Jorge Chavez folgte ihr mit einem schiefen Lächeln.
Staatssekretär Kristaps Bergmanis stand auf und spuckte aufgebracht einen Fluch auf Lettisch aus. Laima Balodis entgegnete kühl: »Speak English, please. I know that you can, Sir.«
Kristaps Bergmanis fiel die Kinnlade herunter. SchlieÃlich brachte er in einwandfreiem Englisch hervor: »Wer sind Sie eigentlich?«
»Setzen Sie sich«, forderte Balodis ihn gleichmütig auf.
Sie und
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