Gier
ihrer Bewaffnung leicht hindurchgelangen würden.
Lavinia Potorac war sich nicht ganz sicher, ob ihre Bewaffnung für das Vorhaben optimal war. Ihr hätte das kleine Maschinengewehr völlig ausgereicht, denn sie spürte, wie die groÃe, mit einem Schalldämpfer versehene Pistole am Hosenbund unterhalb der schusssicheren Weste sie unnötig behinderte. Wie auch dieses verfluchte Nachtsichtgerät, das wie ein Zyklop auf ihrer Stirn saÃ. Sie tastete kurz danach.
Tebaldi deutete blitzschnell ihre irritierte Bewegung und sagte: »Nicht gerade viele Fenster da drinnen ...«
Was Potorac in der Tat nicht leugnen konnte. Der routinierte Mafiajäger schien wirklich an alles gedacht zu haben. Dieser absolute Fokus auf die Jagd, hinter dem sich so viel persönliche Tragik zu verbergen schien. Aber jetzt war kaum der geeignete Zeitpunkt, um danach zu fragen. Ihr Zusammensein verlief bisher erstaunlich unpersönlich. Normalerweise gefiel ihr das. Aber im Moment verunsicherte es sie eher. Gerne hätte sie ein paar warme, aufmunternde Worte gehört.
»Es ist an der Zeit«, sagte Tebaldi.
Potorac nickte. Sie dachte an ihren Ehemann Dumitru, den friedfertigen Universitätsdozenten für Philosophie, und sie dachte an ihre kleine Tochter Nadia, die sie nach der ehemaligen rumänischen Starturnerin Nadia ComaËneci benannt hatte. Und dann verdrängte sie beide aus ihrem Bewusstsein. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf den Plan.
Er war eigentlich nicht besonders ausgeklügelt. Alles drehte sich um absolute Geräuschlosigkeit und das Ãberraschungsmoment. Sie sollte nach links oben und hinaus auf die einzig erhaltene Empore laufen und ihm Deckung geben, während Tebaldi den direkten Weg durch den groÃen Saal nehmen würde, um in den hinteren Raum zu gelangen. Sie hätte unterdessen Ãbersicht über ihn und den gesamten unteren Bereich. Und beide wären sie bereit, innerhalb des Bruchteils einer Sekunde zu schieÃen.
Das war alles.
Sie machten sich auf den Weg und erklommen lautlos den Steilhang. Die Sonne war noch nicht zu sehen. Ein spukähnliches, verzögertes Dämmerlicht erhellte dürftig den Himmel über den Baumkronen. Der Wald duftete nicht mehr, ihr Geruchssinn trat hinter notwendigeren Sinnen zurück. Zu sehen und zu hören musste ausreichen.
Fokussierung.
Sie erreichten die AuÃentreppe, schlichen sich lautlos hinauf und standen vor dem schiefen uralten Eichenportal. Sie klappten ihre Nachtsichtgeräte von der Stirn herunter und schlüpften durch den Spalt am Portal vorbei in die Dunkelheit.
Der Korridor war unerwartet eng. Rechts und links gingen die Treppen ab. Potorac hielt sich links und verschwand nach oben.
Fabio Tebaldi war allein. Jetzt nur nicht nachdenken, dachte er und inspizierte den Korridor. Nicht über irgendetwas nachdenken, sich lediglich in den groÃen Saal hinein- und von dort aus weiterarbeiten. Nicht daran denken, wie nahe sie dran waren. Nicht an den Bruder denken. Nicht daran denken, dass der Sorridente nur noch eine Ecke entfernt war.
Nicht nachdenken. Nicht nachspüren.
Er schlich durch den Korridor. Durch das Nachtsichtgerät sah alles grünlich aus. Die Konturen waren deutlich zu erkennen, aber Unwichtiges war verschwommen. Wie das Leben, wenn es am schönsten war.
Ein kleines Portal führte in den groÃen Saal. Er warf einen raschen Blick seitlich hinein. Alles leer. Viel Luft. Die Weitläufigkeit einer Kathedrale. Allerdings befand sich in der Mitte ein riesiger Eichentisch, um den herum ungefähr fünfzig Stühle standen. Ungefähr fünfzig, dachte Tebaldi und machte einen Schritt in den Saal hinein, fünfzig, wie die vermutete Anzahl der Mitglieder, Santisti . Er hatte also mit seiner Schätzung richtig gelegen.
Ein flüchtiger Blick hinauf zur linken Empore. Ihr Körper wurde von der hohen Balustrade verdeckt. Nicht der geringste Hinweis auf Potorac. Es war genau so, wie es sein sollte.
Er schlich sich an der rechten Wand entlang. Die Maschinenpistole schussbereit. Absolut bereit. Die Angst schob sich wie Lava durch seine Adern. Potorac sieht mich, dachte er. Das muss reichen.
Lavinia sieht mich.
Sie sah ihn. Warf einen Blick über die Balustrade der linken Empore und sah ihn dort stehen, genau an der Schwelle zum groÃen Saal. Er setzte sich in Bewegung, während sie der geringsten seiner Regungen mit dem Blick folgte. Er glitt an der
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