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Gier

Gier

Titel: Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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ein Standbild, alles erscheint ihm sehr merkwürdig. Dann erblickt der Beobachter etwas anderes. Einen klein gewachsenen Mann mit asiatischem Aussehen, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter der Absperrung hindurchschiebt. Zhang Sangs Gesichtszüge sind deutlich zu erkennen, sein Gesicht ist verschwitzt, sein Blick fokussiert. Auf den Beobachter. Der gar nicht da ist. Plötzlich hört er Motorengeräusche, außergewöhnlich laut. Als das grafitgraue Auto Zhang Sang die Beine bricht, tritt eine Verzögerung ein. In diesem Moment bleibt die Zeit stehen. Unmittelbar bevor er durch die Luft gewirbelt wird. Das Erstaunen in den Augen von Zhang Sang, als seine Beine sich verbiegen. Tatsächlich verbiegen. Wie alles für einen Moment innehält. Dann ist nichts zu sehen, bis Zhang Sangs blutendes Gesicht ihm ganz nahe ist. Der Blick des Beobachters richtet sich abrupt auf die gegenüberliegende Straßenseite, nach rechts. Wo ein weiteres grafitgraues Auto anhält. Im Tumult, der entstanden ist, steigen zwei Männer aus dem Wagen. Alles geschieht ganz langsam. Sie heben eine Frau aus der Menschenmenge. Wie deutlich diese Szene plötzlich ist. Ihre langen mittelblonden Haare fallen ihr sachte ins Gesicht. Der Beobachter sieht lediglich ihr Gesicht, genau in dem Augenblick, als die Frau in den Wagen gezerrt wird, allerdings nur für einen sehr kurzen Moment. Kein anderer sieht, was da geschieht, alle Blicke sind in die andere Richtung gerichtet, auf Zhang Sang und auf den Beobachter, der gar nicht existiert. Dann sieht der Beobachter an Zhang Sangs Blick, dass er gleich sterben wird. Er schaut einem Menschen genau in dem Moment in die Augen, als der sein Leben aushaucht. So nahe vor ihm. Wobei er überhaupt nichts sieht. Lediglich hört. Sein gesamter Fokus richtet sich aufs Hören. Wie ein heißer Geysir speien Zhang Sangs röchelnde Atemzüge Blut in sein Ohr. Als besäße er ein Ohr. Er hört eine Anzahl befremdlicher Silben, die sich mit der Eruption des Blutes vereinen. Er hört die Worte so deutlich wie in Zeitlupe, klar voneinander getrennt: »Gtsang po, dug, rgyl mo rngul chu, dug, nyal khri, dngul, jiang.« Dann schaut er Zhang Sang in die Augen, als der Tod eintritt. Plötzlich erfasst ihn ein Schauder, der durch Mark und Bein geht. Was er spürt, ist ein eisiger Februarwind, ein harscher Wind des Verrats, der von dem verlassenen Tal herunterbläst.
    Â»Fünf, vier, drei, zwei, eins – und jetzt sind Sie wieder wach.«
    Gewissermaßen aus dem Nichts erklang eine Frauenstimme. Er schaute auf und begegnete den Blicken zweier Frauen. Er hatte keine Ahnung, wo er war.
    Doch dann kam ihm allmählich eines der Augenpaare etwas bekannter vor. Es blinzelte, zwinkerte ihm zu und betrachtete ihn etwas zu eingehend.
    Â»Jutta?«, fragte er. »Bist du es?«
    Â»Ich bin es, Arto«, antwortete Jutta Beyer. »Das hast du richtig gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.«
    Â»Was ist denn geschehen?«
    Â»Du warst wieder in London. Dank Daatje Ganesvoort, der Ärztin, Psychoanalytikerin und Hypnotiseurin.«
    Â»Ich muss sagen, der Kommissar war ungewöhnlich empfänglich für Hypnose«, bestätigte die dunkelhaarige Frau neben Jutta Beyer.
    Â»Ich war aber gar nicht da«, wandte Arto Söderstedt mit verwaschener Stimme ein.
    Â»Das Phänomen ist wohlbekannt«, sagte Daatje Ganesvoort ein wenig nonchalant.
    Â»Das Phänomen?«, fragte Söderstedt. »Was für ein verdammtes Phänomen?«
    Â»Das Phänomen, dass man verschwindet. Man sieht und hört deutlicher, aber man selbst existiert nicht. Jedenfalls nicht als Person.«
    Jutta Beyer betrachtete die beiden nervös, während sie sich unterhielten. Sie platzte regelrecht vor Ungeduld. Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie schaute hinunter auf ihren Notizblock und fragte: »Stimmt das jetzt so? ›Gtsang po, dug, rgyl mo rngul chu, dug, nyal khri, dngul, jiang‹. Statt ›ksangpudygrgymongultjudygnialkridingyljiang‹?«
    Â»Ja«, antwortete Arto Söderstedt mit plötzlicher Gewissheit. »Ja, das hat er gesagt. ›Gtsang po, dug, rgyl mo rngul chu, dug, nyal khri, dngul, jiang‹. Obwohl ich zusätzlich noch etwas Neues gesehen habe. Eine Frau, die in eine andere Zivilstreife gezerrt wurde.«
    Â»Wir haben es gehört«, sagte Jutta Beyer. »Sah sie möglicherweise

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