Gier
Kindern verbracht hatte â sie spürte zwischenzeitlich, wie sie sich nahezu an sie klammerte â, war der Schorf unerwartet schnell getrocknet, und heute Morgen fiel er während der Busfahrt von ihrem Haus in Birkastan nach Kungsholmen wie trockenes Herbstlaub ab und hinterlieà ein paar Narben auf ihrer Stirn, die durchaus an Falten erinnerten.
Es kam vor, dass sie ihre alte Freundin und Kollegin Lena Lindberg sehnlichst vermisste. Lena war gerade Mutter geworden. Der Vater des Kindes war Pfarrer in der Engelbrekts-Kirche. Sara hatte sie in ihrem Reihenhaus in Stocksund besucht. Im Pfarrhaus herrschte eine merkwürdige, nahezu aufgesetzte Harmonie. Doch Lena machte durchaus einen glücklichen Eindruck. Warum sollte Sara also das Glück infrage stellen? Auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob Lenas Lebensentwurf wirklich so aussah ...
Das Saltsjö-Järla-Gymnasium war aus den Siebzigerjahren und lag hinter einer Sportanlage. Sie musste zwischen zwei gigantischen FuÃballplätzen hindurchwandern, um das Schulgebäude zu erreichen. In dem Moment strömte die groÃe Schar aus der Schule heraus. Erstaunlicherweise gelang es Sara sofort, Johannes Stiernmarcks schwarzen Schatten in der Horde auszumachen. Sie winkte hektisch, aber sie war natürlich viel zu weit weg. Plötzlich schien sich um Johannes herum eine Gruppe zu bilden, die aus Jungen und Mädchen bestand. Als Sara nahe genug war, um die Szene deutlich erkennen zu können, fiel Johannes ziemlich abrupt zu Boden.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Sara aufging, was gerade passiert war. Bis sie begriff, dass Johannes umgestoÃen worden war, und sie die Tritte gegen seinen Körper wahrnahm.
Nun war sie nahe genug herangekommen, um auch die Beschimpfungen hören zu können, die bruchstückhaft durch die Luft geflogen kamen:
»Pädophilenbubi ...«
»Vom Alten gefickt ...«
»Das erklärt, warum er soân verdammter Schwuli ist ...«
»Stehen bestimmt Fotos im Internet ...«
»Der kleine schwule Johannes mit âm Schwanz von seinem Alten im Mund ...«
Sara lief los, doch wie auf ein Zeichen löste sich die Gruppe um Johannes herum auf und verschwand wieder im Schulgebäude. Johannes blieb am Boden liegend allein zurück. Er stützte sich auf den Ellenbogen und befühlte sein Gesicht. Sara war immer noch zu weit weg, um seine Gesichtszüge erkennen zu können.
SchlieÃlich erreichte sie eine kleine, rot gestrichene Hütte, höchstwahrscheinlich die FuÃballumkleide, die direkt vor dem Zaun stand, der den Schulhof umgab. Johannes war gerade aufgestanden und wischte sich langsam die schwarzen Lederklamotten ab. Sara umrundete die rote Hütte, umfasste die Verstrebungen des Zauns und wollte ihm etwas zurufen. Aber sie brachte keinen Laut heraus.
Doch dann sah er sie. Sie erwiderte seinen Blick mit einer kurzen resignierten Geste. Er hob die Hand und deutete damit auf die andere Seite des Zauns, wo sie stand. Und dann erschoss er sie. Mit dem Zeigefinger.
Carl-Henric Stiernmarck saà auf dem Endymion -Sofain seinem Wohnzimmer in Hästhagen. Von dem ehemaligen Direktor Stiernmarck war wenig übrig geblieben. Jeglicher Lack, jegliche stolze Selbstdarstellung war wie weggeblasen. Seine Hände lagen gefaltet im SchoÃ, sie schlossen und öffneten sich, verkrampften sich in einem merkwürdigen Rhythmus.
»Ich verstehe immer noch nicht, dass Johannes in die Schule gehen durfte«, sagte er gedämpft.
»Es ist wichtig, eine gewisse Normalität zu wahren«, entgegnete Kerstin Holm. »Wir wollen kein Aufsehen erregen, bis wir für Ihre neuen Identitäten alles geregelt haben. Er wird gut bewacht, da wird es also keine Probleme geben.«
»Wictoria hat sich im Schlafzimmer eingeschlossen«, sagte Stiernmarck noch gedämpfter. »Ich frage mich, ob sie mir jemals verzeihen wird.«
»Sie müssen mir genau erzählen, wie es zu dem Kontakt mit der Mafia kam, Carl-Henric. Das ist wichtig.«
»Ich habe es ja versucht.«
»Bisher haben Sie eigentlich nur gesagt, dass Sie es waren, der Kontakt zu ihnen aufgenommen hat, und nicht andersherum. Das ist nicht gerade eine weiterführende Information.«
»Bei einer Möbelmesse in Frankfurt habe ich einen Kollegen getroffen, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere â ich glaube, er war Holländer, aber da die Nacht ziemlich lang und feuchtfröhlich
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