Gier
könnte. Dass es in gewisser Weise immer zu spät war. Dass einem alles immer erst dann einfiel, wenn es bereits zu spät war. Sie nahm die Abfahrt bei Riddarfjärden und fuhr dann weiter über Söder Mälarstrand, Slussen, Stadsgårdsleden. Verdammt, wie langsam sie vorankam. Und dabei gab sie Gas, wie sie es nie zuvor getan hatte. Zum Glück war die Brücke in Danvikstull nicht geöffnet, das hätte sie nicht überlebt. Die Zeit wurde knapp, verdammt knapp.
Endlich kam die Sportanlage in Sicht. Dahinter lag das Schulgebäude des Saltsjö-Järla-Gymnasiums völlig verlassen da.
Sie stürzte aus dem Wagen und rannte zwischen den beiden FuÃballplätzen hindurch. Sie sah, dass die Tür zu der kleinen roten Hütte, die unmittelbar vor dem Zaun stand, der den Schulhof umgab, hin- und herschwang.
Die Tür schwang hin und her, das war alles.
Es war in der Tat eine Umkleide für die FuÃballspieler. Als Sara Svenhagen sie betrat, hörte sie nichts auÃer ihren eigenen Atem. Sie japste, keuchte und schnaufte. Allmählich konnte sie die Konturen des Raumes ausmachen. Sie stand in einem kleinen Flur. Eine Tür ging nach rechts ab, eine andere nach links. Die Jungen- beziehungsweise Mädchenumkleide. Sie entschied sich für die Mädchenumkleide.
Dort drinnen war es dunkel. Es roch nach eingetrocknetem TeenagerschweiÃ. Ein Geruch, der Erinnerungen hervorrief.
Sie war auÃerstande, etwas zu erkennen, und tastete sich an der rauen Holzwand entlang. Dann erblickte sie ganz hinten in der Ecke etwas. Eine Silhouette.
Er hockte in der Ecke auf dem FuÃboden. Die Schrotflinte lag neben ihm, die Pistole hatte er sich in den Mund geschoben. Sein rechter Zeigefinger spannte sich zitternd um den Abzug. Sein Blick war leer.
Sie ging ein paar Meter von ihm entfernt auf die Knie und rang hörbar nach Luft.
»Stirb, du erbärmlicher verdammter Wichtigtuer«, schnaufte sie.
Johannesâ Blick veränderte sich, und er sah sie an. Doch die Pistole steckte immer noch in seinem Mund.
»Ich habe es missverstanden«, sagte Sara. »Verzeih mir.«
Seine Augenbrauen hoben sich, während Sara fortfuhr: »Fast eine halbe Stunde lang habe ich etwas ganz anderes vermutet. Etwas, das du wahrscheinlich niemals tun würdest, Johannes.«
In dem Moment zog er die Pistole aus dem Mund und richtete sie stattdessen auf seine Schläfe. Leise, aber etwas irritiert stellte er fest: »Sie haben gedacht, ich würde sie erschieÃen.«
»Das war dumm von mir«, gab Sara zu. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto dümmer erscheint es mir.«
»Weil ich zu feige dazu bin, hä? Weil mir der Mut fehlt, das erste Schulmassaker in Schweden zu veranstalten?«
»Weil du ein viel zu guter Mensch bist. Du Wichtigtuer.«
Er schaute sie an und schob sich die Pistole wieder in den Mund.
»Nichts ist zu spät, Johannes«, fuhr Sara leise fort. »Es ist immer noch möglich, alles wieder ins Lot zu bringen. Ihr bekommt eine zweite Chance, die ganze Familie. Neue Identitäten, irgendwo, weit weg, wo ihr hinwollt. Stell dir zum Beispiel Australien vor. Die Sonne, die Wellen. Es ist, wie neu geboren zu werden.«
»Sie glauben zu wissen, wer ich bin«, zischte Johannes und hielt sich die Pistole erneut an die Schläfe. »Dabei sind Sie doch nur ân blödes Weib wie alle anderen auch, âne verdammte Tussi.«
»Ja, ich bin nur ein Weib. Und dazu noch ein Weib mit einer verdammt schlechten Kondition. Aber ich weiÃ, was du gesehen hast, Johannes. Du hast mehr und vor allem üblere Dinge gesehen, als es für jemanden in deinem Alter gut ist. Wir leben in einer Welt, in der Macht und Stärke wichtiger sind denn je. Die Welt ist zu einem verflucht erbärmlichen Ort geworden. Spiel ihr Spiel nicht mit, Johannes.«
Johannes lachte auf. Es war ein sarkastisches Lachen.
»Gibt es denn eine Alternative?«, fragte er.
»Dein Vater ist unschuldig«, sagte Sara abrupt. »Er hat sich überhaupt nicht mit Kinderpornografie befasst. Er hat sich ja auch nie an dir vergriffen. Er hat sich lediglich mit den falschen Geschäftsleuten eingelassen, das ist alles. Sie sind gefährlich. Du hast sie ja gesehen.«
»Er hat so verdammt feige ausgesehen.«
»Er hatte Angst. Und es war auch gut, dass er Angst hatte. Wenn er versucht hätte, sich zu verteidigen, wäre er jetzt
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