Gier
tot.«
Die Pistole wanderte erneut in den Mund.
»Das ganze Leben liegt noch vor dir«, sagte Sara. »Du willst dich doch gar nicht umbringen. Das weià ich.«
»Sie hätten nicht herkommen sollen, Sara«, sagte Johannes und zog die Pistole wieder aus dem Mund.
Sara hielt inne. Sie betrachtete Johannes. Betrachtete den Pistolenlauf, von dem inzwischen der Speichel troff. Sie fixierte den Speichelstrang mit ihrem Blick.
»Heute habe ich plötzlich die Welt gesehen, wie sie wirklich ist«, sagte sie langsam. »Ich habe auf eine Wand geschaut, und es war, als würde sich der Nebel vor meinen Augen lichten. Ich habe der Welt mit klarem Blick direkt in die Augen geschaut. Eine kriminelle Denkweise wird sich auf der ganzen Welt ausbreiten. Leute, die vor zwanzig Jahren noch anständig waren, sind heute kriminell, ohne dass sich ihre Situation auch nur annähernd geändert hätte. Kriminalität ist zu einem Normalzustand geworden, zu tricksen und zu betrügen ist inzwischen so normal wie das Atmen. Das hat nichts mit Stärke zu tun. Das Geld ist ernsthaft dabei, die Moral und das selbstständige Denken zu ersetzen. Eine üble, unausgegorene Feigheit breitet sich in ganz Europa aus. Alles wird immer oberflächlicher. Für den Schmerz, den du spürst, Johannes, ist kein Platz mehr. Er passt nicht in die Scheinwirklichkeit einer Welt, die von der Unterhaltungsindustrie bestimmt wird. Also sucht er sich ein Ventil und schieÃt über das Ziel hinaus. Immer öfter schieÃt er über das Ziel hinaus.«
»Und was wollen Sie dagegen tun?«
Sara hielt inne. Sammelte sich und versuchte ihre Gedanken in die richtigen Worte zu fassen. Dann sagte sie: »Wenn du als Selbstmörder stirbst, wird dich der Schmerz bis in alle Ewigkeit verfolgen. Das glaube ich jedenfalls. Komm, wir gehen hier weg. Pfeif auf die Idioten, denen nicht einmal bewusst ist, dass sie dir wehtun. Pfeif auf alles andere und kümmere dich stattdessen um dich selbst. In deinem Alter ist es normal, wenn die Seele leidet. Auf diese Weise wird der Rest des Lebens wertvoller.«
Er blinzelte. Er blinzelte tatsächlich. Sie sah, wie ihm langsam Zweifel kamen. Aber das Ganze konnte noch immer in die völlig falsche Richtung gehen.
»Gib mir die Waffe«, forderte sie ihn auf. »Man ist immer stärker ohne.«
»Sie wissen genau, dass das nicht stimmt«, entgegnete er mit dumpfer Stimme. »Der Stärkere gewinnt. Der mit den meisten Waffen. Ich hab doch gesehen, wie diese Idioten meinen Vater gegen den Türrahmen gestoÃen haben. Sie haben gesiegt.«
»Das hat nichts mit Stärke zu tun, das ist Feigheit. Wir können aber nicht in einer Welt leben, in der die Feigen gewinnen. In der sich Betrug, Gemeinheit und Dummheit immer wieder durchsetzen. Du bist nicht so. Du empfindest die Dinge intensiver als andere, das ist alles. Zeig es auf die richtige Art und Weise.«
Sara lehnte ihren Kopf an die Holzwand. Sie schloss die Augen. Dann fuhr sie fort: »Vor zehn Jahren habe ich Kinderpornografiefälle bearbeitet. Es hat mich fast umgebracht. Diese unendlich kranke Welt. Glaub mir, ich weiÃ, wie beschissen du dich fühlst.«
Sie öffnete die Augen nicht. Sie wusste, dass es jeden Augenblick zu Ende sein konnte. Sie lächelte schwach. Was auch immer nun passieren würde, das Verrückte war, dass der Moment sich angenehm anfühlte.
Die Zeit verging. SchlieÃlich hörte sie Johannesâ Stimme.
»Verdammt. Hier.«
Er reichte ihr die Waffen. Sie nahm sie an sich und legte sie neben sich ab. Dann breitete sie ihre Arme aus. Er kam zu ihr gekrochen. Und weinte an ihrem Hals. Sie strich ihm sachte über die langen verfilzten, schwarz gefärbten Haare. Und begann selbst zu weinen.
Eine Weile blieben sie so sitzen. Bis von der Schule her Geschrei und Gejohle zu hören waren.
»Sollten wir nicht lieber gehen, bevor die FuÃballspieler kommen?«, fragte Sara Svenhagen.
Die Bank
Berlin, 15. April
Jorge Chavez schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Basslinien von Radioheads »The National Anthem«, die ihm in seinem Leben bisher am meisten bedeutet hatten. Nach zweistündiger absoluter Konzentration auf Minotaurus gönnte er sich eine kurze Ruhepause und hörte Musik. Endlich kam Jorge Chavez zur Ruhe. Er lieà den Tag Revue passieren. Das Treffen am frühen Morgen mit den beiden Deutschen der
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