Gier
beunruhigende Vision der Zukunft, die sie erwartete. Doch sie störte auch etwas anderes.
Es fehlte etwas.
Sara Svenhagen lieà ihren Blick über die Fotos vom Sorridente und vom Ricurvo schweifen, über Carl-Henric Stiernmarck und Wang Yunli. Wang Yunli mit ihren Zwillingssöhnen Cheng und Shuang auf dem SchoÃ. Dann über Stiernmarck mit den blauen Flecken im Gesicht. Il Sorridente mit dem merkwürdigen Lächeln. Ricurvos krumme Gestalt.
In dem Moment fiel es ihr auf.
Und es barg eine furchterregend düstere Logik in sich.
Was waren die Konsequenzen eines solchen Weltbildes? Was für einen Menschentyp brachte es hervor?
Sie verlieà Kerstins Zimmer und lief in ihren Raum. Fuhr ihren Computer hoch und erwischte mit erstaunlicher Geschwindigkeit den richtigen Ordner, öffnete noch schneller eine Videodatei mit der Bezeichnung »Februar« und startete sie. Die Filmsequenz war ohne Ton und dauerte nicht länger als zwanzig Sekunden. Am unteren Bildrand stand Mittwoch, 11. Februar, 12: 52 Uhr. Zwei Männer mit relativ dunklem Teint stieÃen einen bedeutend gröÃeren, blonden sonnengebräunten Mann gegen einen Türpfosten. Als der Film zu Ende war, begann es auf dem Bildschirm zu flimmern. Doch an der Kontrollleiste des Videoprogramms war deutlich zu sehen, dass der Film eine Minute lang und davon noch eine halbe Minute übrig war.
In dem Moment erschien das Bild wieder. Johannes Stiernmarck vor seiner Webcam. Lediglich sein Gesicht war zu sehen. Sein Blick hatte etwas Verbittertes. Ernstes. Er schaute direkt in die Kamera. Dann trat er langsam etwas zurück. Als sich nach und nach sein gesamter Körper abzeichnete, wurde deutlich, dass er etwas in den Händen hielt. Er hob die Arme an und verschränkte sie vor der Brust. In der rechten Hand hielt er eine Schrotflinte und in der linken eine Automatikpistole. Dann richtete er beide Waffen direkt auf die Kamera. SchlieÃlich erlosch das Bild. Der Film war zu Ende.
Sara Svenhagen klickte eine Sprachdatei an. Das letzte Gespräch zwischen Kerstin Holm und Carl-Henric Stiernmarck. Sie spulte etwas vor und fand, was sie suchte. Kerstin Holm sagte: »Der Lilane. Und als die Blauen Ihnen auf den Fersen waren, wollten sie wieder mit dem Lilanen sprechen. Woraufhin sie Ihnen drohten.« Daraufhin merkte Stiernmarck an: »Zum zweiten Mal. Nach dem ersten Mal habe ich mir Waffen zugelegt. Eine Schrotflinte und eine Automatik. Als würde mir das weiterhelfen.«
Sara stoppte die Aufnahme und musste an die Ereignisse des gestrigen Tages zurückdenken. Der Schulhof weit entfernt hinter einer roten Hütte und einem Zaun. Wie Johannes umgestoÃen wurde. Die Wortfetzen: Pädophilenbubi. Verdammter Schwuli. Den Schwanz von seinem Alten im Mund. Johannes, der Sara auf der anderen Seite des Zauns entdeckt. Wie er ihr geradewegs in die Augen schaut. Wie er die Hand hebt und sie erschieÃt.
Mit dem Zeigefinger.
Sie spürte, wie sie heftig blinzelte. Einige Sekunden vergingen. Die Gedanken schossen wie wild durch ihren Kopf. Was hatte sie gesehen, als sie Johannes zum ersten Mal begegnet war? Dann fiel es ihr ein. Er hatte sich Filme auf YouTube angesehen. Sie ging ins Internet und klickte YouTube an. Mit zitternden Händen gab sie »Saltsjö-Järla-Gymnasium« ein.
Es gab einige Filme, und es gelang ihr, sie chronologisch zu sortieren, sodass der neueste zuoberst stand. Er war gerade mal eine Stunde alt. Sie konnte auch sehen, wie oft er angeklickt worden war. Sie war die Erste.
Der Film zeigte das Teenagerzimmer von Johannes Stiernmarck. Johannes war in voller Kampfmontur. Militärkleidung. Die Waffen direkt in die Kamera gerichtet. Sein Blick voller Hass. Er zischte zwischen den Zähnen hervor: »Stirb, du erbärmlicher verdammter Wichtigtuer.«
Sie griff nach ihrer Tasche und rannte, wie sie seit Langem nicht mehr gerannt war. Noch bevor sie den Schlüssel für einen Zivilwagen ausgehändigt bekam und die Tiefgarage des Polizeigebäudes erreichte, hatte sie das Gefühl, zu explodieren. Sie gab Vollgas und rauschte auf die Bergsgata hinaus, wo sie verkehrswidrig auf die Scheelegata abbog, dass der Wagen über den Bürgersteig holperte. Dann raste sie mit durchgetretenem Gaspedal die Kungsholmsgata entlang bis zum Klarabergsviadukt und hinunter zur Centralbro. Die ganze Zeit über wurde sie dieses eisige Gefühl nicht los, dass es bereits zu spät sein
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