Gier
Zeiten. Und dennoch weià ich nicht, ob ich sie zurückhaben will. Wenn die Dinge sich nicht weiterentwickeln, sterben sie.«
»Stimmt«, meinte Stiernmarck. »Aber ehrlich gesagt sind auch so ziemlich viele Menschen gestorben.«
Sie lachten eine Weile. Nein, sie glucksten regelrecht.
Mark Payne sah, wie Johannes Stiernmarck vor den weit aufgerissenen Augen von Ethan und Olivia einige Akkorde auf seiner Gitarre griff. Dann sang er ihnen ein Kinderlied vor. Sie schienen einander zu mögen.
Doch in nur wenigen Minuten würden sich ihre Wege trennen, und sie würden sich nie mehr im Leben begegnen.
»Sieht so die Zukunft aus?«, fragte Payne. »Wir begehen Verbrechen, wir verpfeifen unsere Kollegen, und wenn wir es wert sind, erhalten wir eine zweite Chance. Sonst werden wir unserem Schicksal überlassen. Wir erhalten eine zweite Chance, wenn einflussreiche Kriminelle uns ermorden wollen. HeiÃt das, dass der Rechtsstaat mittlerweile schwächer ist als die internationalen Verbrecherorganisationen?«
Carl-Henric Stiernmarck sah ihn an.
»Mir war nicht klar, wie einflussreich sie wirklich sind«, antwortete er schlieÃlich.
»Mir auch nicht«, sagte Payne. »Ich wollte nur ein wenig hinzuverdienen. Zu teurer Kredit auf dem Haus.«
Stiernmarck nickte eine Weile. Dann fixierte er Payne mit dem Blick und sagte: »Wenn ich noch einmal im Leben die Chance bekommen sollte, ein Unternehmen aufzubauen, dann weià ich jedenfalls, wie man es heutzutage aufziehen muss.«
Versammlung
Den Haag, 20. April
Vielleicht war es noch nicht ganz so weit, aber als Jutta Beyer zum Europolgebäude im Raamweg in Den Haag radelte, hatte sie doch das Gefühl, dass der Sommer Einzug hielt. Die Luft veränderte sich, sie wurde wärmer, duftete stärker, und als sich das von wildem Grün umrankte Europolgebäude wie eine Oase nach einer langen Wanderung durch die Wüste vor ihr auftürmte, kam ihr die Stadt wirklich sommerlich vor. Auf dem Parkplatz kollidierte sie beinahe mit Marek Kowalewski, der nicht ganz so breit lächelte wie früher. Sie stellten ihre Fahrräder nebeneinander ab.
»Sollen wir sie zusammensperren?«, fragte Marek und rasselte mit seinem Fahrradschloss wie ein Gespenst.
»Okay«, antwortete Jutta und lieà ihn die beiden Fahrräder zusammensperren.
Als sie gerade das Gebäude betreten hatten, bekam Kowalewski einen heftigen Hustenanfall. Jutta Beyer blieb stehen und wartete, bis er fertig gehustet hatte. »Ist es noch nicht besser geworden?«, fragte sie.
»Es wird immer besser«, antwortete Kowalewski, »aber wahrscheinlich werde ich meine volle Lungenkapazität niemals ganz zurückerlangen. Es ist so, wie du gesagt hast, Jutta Beyer. Ich hätte daran denken sollen, dass ich ein Schreibtischbulle bin.«
Jutta lächelte. Doch dann musste sie an Tony Robbins denken. Die Idee, ihren alten Bekannten Chief Superintendent Anthony L. Robbins einzuspannen, endete damit, dass er ermordet wurde. Sie hatte mit groÃer, nahezu masochistischer Akribie die britischen Ermittlungsunterlagen über die Polizistenmorde in Porthtowan gelesen. Tony war gefoltert worden, nicht zuletzt mit Stacheldraht, und dann hatte man ihn enthauptet.
Und das war Jutta Beyers Schuld.
Ziemlich niedergeschlagen erreichten Beyer und Kowalewski die Tür zum Versammlungsraum, der inzwischen von allen »die Kathedrale« genannt wurde. Vor der Tür stand Felipe Navarro und richtete seinen Krawattenknoten, die Zungenspitze im Mundwinkel. Er öffnete die Tür und hielt sie ihnen mit einer galanten Geste auf.
»Danke«, sagte Jutta Beyer erfreut.
»Gern geschehen«, erwiderte Felipe Navarro höflich.
Die restlichen Mitglieder der bunten Schar saÃen bereits an ihren Plätzen und wirkten nahezu unversehrt. Bis auf zwei markante Ausnahmen. Miriam Hershey trug noch eine überdimensionale Nasenschiene, die aussah, als wäre sie aus Gips, und um die herum sich blaue Flecken über ihr Gesicht ausbreiteten wie Wasserflecken um ein leckes Abflussrohr herum. Aber sie wirkte dennoch fröhlich. Sie war wieder mit Laima Balodis vereint, und die beiden, die schon so vieles hatten durchmachen müssen, saÃen dort vorn und kicherten wie zwei Schulmädchen. Jutta Beyer wertete es als gutes Zeichen, auch wenn es sie auÃerordentlich irritierte. Sie setzte sich neben Arto Söderstedt, das war völlig
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