Gier
Metropolitan Museum of Art und lässt sie vor all dem sprieÃenden Grün wie eine dahinschmelzende Schneelaterne aufleuchten. Zu dieser Jahreszeit ist die Stadt am schönsten, und sie selbst fühlt sich am wohlsten. Obwohl sie sich jetzt nicht mehr so sicher ist. Die vergangenen Wochen haben sie ziemlich mitgenommen. Die Geister der Vergangenheit sind zu neuem Leben erweckt worden.
Sie schlieÃt die Augen und reckt ihr Gesicht der Aprilsonne entgegen. Saugt sie förmlich in sich auf. Und verspürt eine gewisse Wehmut. All das, woran sie geglaubt hat. Dem sie blind vertraut hat. All das, was dazu beigetragen hat, dass sie und ihre Kinder ein angenehmes Leben führen können, ein auÃergewöhnliches Leben. All das ist ins Wanken geraten. Bis zu welchem Grad kann sie es verteidigen? Wo verläuft die Grenze?
All das, was sie erfahren hat. Jetzt ist sie diejenige, die das Wissen verwahrt. Sie.
Was soll sie nur mit diesem Wissen anfangen?
Was soll sie mit all den Erkenntnissen, die sie gar nicht haben wollte?
Sie schlägt eine Tageszeitung der vergangenen Woche auf. Blättert darin. Ertappt sich selbst dabei, nur oberflächlich zu lesen. Mitten in einem Artikel stellt sie fest, dass sie gar nicht weiÃ, wovon er handelt.
Dann erblickt sie das Foto. Völlig unerwartet.
Das fatale Gefühl des unmittelbaren Erkennens. Des Wiedererkennens. Das über jeden Zweifel erhaben ist.
Sie hört ihren Aufschrei, als wäre er der einer anderen. Er hallt noch wie ein Echo durch die Upper East Side, auch als sie bereits in die Wohnung hineingestolpert ist, und die Frühlingswinde mit dem Zeitungsstapel zu spielen beginnen. Sie blättern den gerade gelesenen Teil Seite für Seite auf und lassen ihn wie die Schwingen eines Seevogels durch die Luft schweben. Dann wird die Zeitung über das Balkongeländer gehoben, die Seiten lösen sich voneinander und segeln im Gleitflug in Richtung des Metropolitan Museum of Art hinunter. Auf der Oberseite ist das Foto einer nackten Frau zu sehen, die mit einem Laken drapiert ist. Sie sitzt bequem zurückgelehnt in einer auffällig entspannten Position.
Die Spinne ist wieder da. Sie weià nicht genau, wie lange es her ist, dass sie sie zuletzt gesehen hat, aber jetzt kriecht sie direkt über ihrem Kopf in einer diagonalen Linie über die Zimmerdecke. Sie bevorzugt offensichtlich Diagonalen. Vielleicht gelingt es ihr intuitiv, die längste Strecke einer Oberfläche auszumachen. Vielleicht besitzt sie instinktive mathematische Fähigkeiten, von denen die Menschen noch etwas lernen können.
Aber wir lernen nicht dazu. Wir erfinden immer neue und fortschrittlichere Dinge, aber wir lernen dabei nichts wesentlich Neues. Eher neigen wir dazu, das Wesentliche zu vergessen. Immer schneller vergessen wir das Wesentliche.
Wahrscheinlich hat die Spinne einen diagonal über die Decke verlaufenden Faden gesponnen. Jetzt sucht sie ihr Netz. Diagonal. Tief in ihrem Inneren verspürt sie das Bedürfnis, Netz und Spinne einfach wegzuwischen. Sie hat einen Putzreflex entwickelt.
Sie ist es leid, untätig hier herumzuliegen, aber sie traut sich nicht, das Haus zu verlassen. Sie war so froh, als man sie gehen lieÃ, daran hätte sie nie geglaubt. Vielleicht funktioniert dieser Rechtsstaat ja doch in gewisser Weise. Der weit über alle Grenzen bekannte europäische Rechtsstaat. Der ihre eigenen und die Kinder anderer verschluckt hat.
Sie nimmt ihr Handy vom Nachttisch und wirft einen Blick darauf. Kein Anruf. Keiner lässt von sich hören. Wer hätte sich auch bei ihr melden sollen? Es ist ja keiner mehr da.
Vor ihrem inneren Auge nehmen die Gesichter Form an. Das dürfte eigentlich nicht geschehen. Nicht jetzt. Normalerweise gelingt es ihr, sie zu verdrängen. Aber inzwischen ist viel Zeit vergangen. Der lange Aufenthalt an ein und demselben Ort weckt Erinnerungen. Bis man irgendwann nicht mehr vor ihnen weglaufen kann.
Sie muss an etwas anderes denken. Und wenn es ihr nicht gelingt, muss sie das Haus verlassen. Aber sie will nicht nach drauÃen. Sie hat Angst hinauszugehen. Rein instinktiv.
Sie ist dankbar, dass Familie Ouyang sie in ihrem Gästezimmer wohnen lässt. Sie ist dankbar für die Wohnungen des Millionenprogramms in Västerhaninge. Sie ist für alles dankbar. Aber ihre Dankbarkeit reicht nicht aus. Nicht mehr.
Sie atmet schwer. Die Spinne ist von der Decke verschwunden. Es gibt
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