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Gier

Gier

Titel: Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Zwiegespräche

Parallelwelten
10. April 7:00:00 P. M. GMT
    Obwohl es mitten in der Nacht ist, verspürt sie das unwiderstehliche Bedürfnis, ihre Füße ins Wasser zu tauchen. Es ist nicht mehr dasselbe Bedürfnis wie früher: der Wunsch nach diesem fröhlichen Herumplanschen im eiskalten Wasser, bei dem sie noch als Teenager laut aufjuchzte. Der war schließlich von der Sehnsucht abgelöst worden, gemeinsam mit ihm in den Fluss zu steigen, nackt. Mit ihm.
    Nein, inzwischen ist es ein anderes Bedürfnis; es ist der Drang zu spüren, wie die starken eiskalten Frühlingsströme, die von den Bergen herabkommen, ihre Füße, die Fersen, die Waden umschmeicheln. Der Drang, sich um jeden Preis abzukühlen. Selbst in diesem Wasser. Obwohl es sich so verändert hat.
    Der Schein der Taschenlampe weist ihr den Weg zu einem großen Stein am Ufer. Sie setzt sich, taucht die Füße in das reißende Wasser und richtet den Lichtstrahl auf ihre Armbanduhr. Es ist zwei Uhr nachts. Früher war sie nie so spät noch wach, aber inzwischen kann sie nicht mehr schlafen. Vor allem wenn er nicht da ist.
    Oben auf der Bergkuppe müsste es eigentlich absolut finster sein, aber dort, wo noch Schnee liegt, erschienen ihr die Flächen schon immer wie von einem inneren Licht erleuchtet. Im April ist es besonders deutlich zu erkennen. Als hätte sich das Gestein noch nicht vollständig gefestigt und glühe schwach im Inneren des Berges nach, sodass auf den Hängen ein Schimmer zu sehen ist.
    Es ist immer noch ein außergewöhnliches Gefühl, hier zu sitzen, mit den Füßen im Wasser, den Blick auf die Berge gerichtet, und die eiskalte glasklare Luft einzuatmen. In diesem Moment spürt sie, dass sie lebt.
    Wenn es das ist, was sie tut.
    Sie weiß, dass sich das Wasser auf seinem Weg bis hinunter zum Kraftwerk reinigt. Dort ist es nicht mehr so gefährlich. Da ist das meiste bereits auf der Strecke geblieben. Insbesondere hier. So nahe dran. Wo sie und ihre Familie leben.
    Hier oben spielt es keine Rolle. Sie gehören schließlich einem anderen Volk an. Einem minderwertigen Volk. Sie weiß, wie die anderen denken. Sie versucht, nicht stromaufwärts zu blicken. Dort unten liegt ein großes Areal, das in krassem Gegensatz zu den Bergen steht. Dort schimmert nichts. Dort wird alles Licht geschluckt. Von einem viereckigen dunklen Kasten. Einem Klotz, einem Koloss. Der nichts als Schrecken verbreitet. Er speit Schrecken aus. Tag und Nacht.
    Sie vermisst ihn. Sie vermisst ihn entsetzlich. Ihre Füße sind inzwischen so kalt, dass sie sie eigentlich aus dem Wasser ziehen müsste. Aber sie kann sich nicht dazu durchringen, sie kann den Fluss jetzt nicht verlassen. Sie muss ihre Füße im Wasser lassen.
    Sie muss alles tun, um endlich nicht mehr zu schwitzen.
    Der alte Fischer weiß, dass genau an dieser Stelle etwas vorgefallen sein muss. Er stellt einen Unterschied zwischen dem Fang hier an der Küste und draußen auf dem Meer fest. Draußen ist die Ausbeute stark zurückgegangen, aber die Fische an sich sehen aus wie früher. Als er aber das letzte Schleppnetz an Bord hievt, jenes, das er am nächsten zum Hafen hin ausgeworfen hat, bemerkt er wieder, dass die Fische anders aussehen. Obwohl es geleugnet wird. Aber es kann doch nicht sein, dass er der Einzige ist, dem der Unterschied auffällt? Doch er hat aufgehört, darüber zu reden. Denn keiner will, dass er darüber redet.
    Er braucht nicht auf die Uhr im Ruderhaus zu sehen, um zu wissen, dass es acht Uhr abends ist. Es ist ein extrem rauer Aprilabend, der Sturm heult entlang der Ostseeküste, und es hagelt, aber das Wetter bringt den alten Fischer nicht aus der Ruhe. Es sind ganz andere Dinge, die ihn stören.
    In der Ferne schimmert ein bernsteingelber Küstenstreifen. Das ist Windau. Aus der Entfernung wirkt die Stadt so heimelig. Aber aus der Nähe betrachtet ist sie eher kalt und abweisend. Ihm gefällt sie nicht. Auch wenn sie so schön leuchtet. Der Anblick erinnert ihn an den Bernstein aus seiner Kindheit. Im Mittelalter war Bernstein mehr wert als Gold. Der lettische Bernstein, der früher entlang der rund achtzig Kilometer langen weißen Sandküste schimmerte, war in der Antike sogar in Griechenland und Rom bekannt. Es war die schönste Materie, die die Erde hervorgebracht hatte. Bis sie plötzlich völlig wertlos wurde.
    Wie der Fisch in der

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