Gier
Ostsee.
Das Boot befindet sich jetzt innerhalb der Zone. Er weià es, aber sein Sohn, der am Steuer steht, hat ihm verboten, das laut auszusprechen. Die Zone existiert nur in deinem Kopf, alter Mann, sagt sein Sohn. Aber er weià es.
Doch der alte Fischer sagt nichts.
Früher war es auch nicht unbedingt besser, aber jetzt hat sich die Situation eindeutig verschlechtert.
Er betrachtet den obersten Hering seines mickrigen Fangs und sieht plötzlich durch die glasigen Augen des Fisches hindurch den toten Meeresboden.
Aber er sagt nichts.
Kein Wort kommt über seine Lippen.
Es ist ein erstaunlich milder Abend. Die leichte Brise aus der GroÃstadt, die durchs Fenster hereindringt, duftet nach der Landschaft seiner Kindheit. Für einen kurzen Augenblick sieht er die felsige Küstenlinie Cornwalls vor seinem inneren Auge. Die Kolonien von Seevögeln, die ihn damals so fasziniert haben.
Er sitzt auf seinem Sofa vor dem französischen Balkon und kann sich nicht bewegen. Dabei ist er trotz seiner inzwischen erheblichen Fettleibigkeit sonst immer noch ein wenig beweglich. Doch es geschieht immer seltener, dass er sich fragt, wie er es nur so weit kommen lassen konnte. Und jetzt ist es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. Oder, denkt er plötzlich, wenn es nun doch noch nicht zu spät wäre? Wenn ich tatsächlich eine zweite Chance bekäme?
Er kann sich nicht bewegen, weil sie auf seinem Schoà liegt. Sie hat sich gewissermaÃen an ihm festgeklammert. Er streicht ihr behutsam übers Haar und fragt sich, ob sie sich je wieder erholen wird.
In dem Moment geschieht es. Vor dem offenen Fenster flattert etwas auf, und dann sitzt er plötzlich auf dem Geländer des französischen Balkons und blickt ihn an.
Vereinzelt passiert es immer wieder, dass er Neuntöter, Teichrohrsänger oder Haubentaucher zu Gesicht bekommt, was er für die ornithologische Sektion der Natural History Society dokumentiert, aber er tut es hauptsächlich, um ein Lebenszeichen von sich zu geben. In diesem Fall ist es allerdings etwas anderes.
Das Handy mit der eingebauten Kamera liegt auf dem Tisch. Er streckt sich danach. Er sieht seine Hand wie eine übergewichtige Krabbe auf das Gerät zuwandern, aber sie erreicht es nicht. Dafür müsste er sich so weit vorbeugen, dass sie aufwacht. Aber das möchte er nicht. Andererseits würde sie bestimmt wollen, dass er das Bild macht. Er betrachtet den Vogel, während er das Für und Wider abwägt. In aller Gemütsruhe putzt das Tier sein Gefieder, während es auf dem Geländer des französischen Balkons balanciert.
Er fasst einen Entschluss und streckt seinen Arm so weit aus, bis er das Handy erreicht. Ihr Kopf wird zwischen seinen Fettwülsten eingeklemmt. Mit dem Handy in der Hand wirft er einen Blick hinunter auf ihr Gesicht. Als sie ihn erwidert, sind ihre Augen leicht glasig.
Er tätschelt ihr den Kopf, bis sie wieder zur Ruhe kommt. Die ganze Zeit über flüstert er: »Ganz ruhig, meine kleine Audrey. Ja, alles wird gut.«
Als er das Handy hochnimmt, springt die Uhr im Gerät gerade auf 19: 00 Uhr um. Er fixiert den Vogel im Display und fängt ihn perfekt im Bildmittelpunkt ein. In dem Moment erwidert das Tier seinen Blick. Durch die Handykamera hindurch blickt Cuthbert geradewegs in die goldenen Augen.
Doch irgendetwas hält ihn zurück. Irgendetwas hält ihn davon ab, das Foto zu machen. Er nimmt das Handy wieder herunter. Die Schellente blickt ihn noch eine Weile an. Dann fliegt sie davon.
Und Cuthbert lächelt. Er streicht Audrey übers Haar und lächelt breiter, als er es seit Jahrzehnten getan hat.
Alles ist genauso wie immer. Sie lebt in einer Welt, in der extrem viel passiert, andauernd, aber in der sich zugleich extrem wenig verändert. Es ist ein gewöhnlicher Freitagnachmittag mit ungewöhnlich schönem Aprilwetter. In ein paar Stunden muss sie die Kinder abholen, unten an der StraÃe, wo der Schulbus hält. Wie jeden Freitag sitzt sie auf dem Balkon und widmet sich den Zeitungen, die sie die Woche über versäumt hat zu lesen. Das ist ihr zur Gewohnheit geworden. Vor ihr auf dem Balkontisch liegt ein Stapel mit Ausgaben der New York Times , und jeden Freitag beschleicht sie das Gefühl, die einzige aufmerksame Leserin von Tageszeitungen weltweit zu sein. Es ist vierzehn Uhr, und weit unter ihr streicht die Frühlingssonne über die Fassade des
Weitere Kostenlose Bücher