Gier
richtige Zeitpunkt ist. AuÃerdem ist er nicht gerade ein Theseus, ich kann ihn also kaum ins Labyrinth schicken. Aber diesen Weg muss ich ohnehin ganz allein gehen.
Vorgestern Abend wurde es mir in meiner Einsamkeit zu eng. Sie überwältigte mich regelrecht. Ich sah mich gezwungen rauszugehen. Ich bin den Broadway entlanggeschlendert und lieà mich einfach in Richtung Times Square treiben. Ich hatte das Bedürfnis, dort zu stehen und mich von all dem Licht, den Geräuschen, der leuchtenden Neonwerbung, dem Lärm, dem Gegröle und Geschrei berauschen zu lassen. Ich stand mitten auf dem Times Square, und dann begann ich mich zu drehen, mit weit ausgebreiteten Armen herumzuwirbeln wie eine aufziehbare Ballerina.
Ich wäre glatt umgefallen, wenn mich nicht jemand aufgefangen hätte. Anfangs war ich ziemlich genervt von ihm. Während in meinem vom Schwindel noch ganz wirren Kopf der Times Square einen bizarren Tanz vollführte, habe ich ihn wie irre beschimpft. »Lassen Sie mich in Ruhe, fassen Sie mich nicht an, Sie Schwein, nehmen Sie bloà Ihre Hände von meinem Körper, Sie Ekel.«
So in der Art. Er kippte mich auf die FüÃe, hielt mich an den Schultern fest und schaute mir tief in die Augen. »Zumindest keine Drogen«, befand er.
Ich weià noch, dass ich laut aufgelacht habe. »Noch nicht einmal Alkohol«, rief ich, »aber ich könnte jetzt durchaus einen Drink vertragen.«
Erst als wir in irgendeiner heruntergekommenen Kneipe in der Nähe, wahrscheinlich war es in der West 48th Street, jeder mit einem Gin Tonic vor sich saÃen, fragte er: »Was war das eigentlich für ein mystischer Tanz?«
Ich kam mir jedenfalls ziemlich einfallsreich vor, als ich antwortete: »Der Todestanz.«
Er gefiel mir eigentlich nicht besonders. Kyle ist nicht gerade der Held, der Minotaurus totschlagen könnte, eher ein schmächtiger Indiemusiker, die ich ja schon immer wie die Pest gemieden habe. Aber irgendetwas an ihm â oder vermutlich lag es an meiner Verfassung â war speziell. Er wirkte irgendwie verletzlich, widmete mir besondere Aufmerksamkeit, als wäre er der letzte Mensch, der mir nahekommen würde, mein allerletzter realer Kontakt mit der Welt, die ich dabei war zu verlassen.
Ich hatte das Bedürfnis, mich mit ihm zu unterhalten, ihm die ganze Geschichte von der Hölle, die ich an meinem Arbeitsplatz gerade durchlebe, zu erzählen. Aber das ging natürlich nicht. Wie sollte ich es ihm erzählen, ohne ihn ebenfalls in Lebensgefahr zu bringen? Wie hätte ich ihm gegenüber die AusmaÃe dessen, was ich gerade durchmache, auch nur andeuten können? Stattdessen habe ich ihm eine Geschichte aufgetischt, die ihn nicht im Geringsten in Gefahr bringen kann.
Sie handelte davon, wie mein Freund im World Trade Center umgekommen ist. Plötzlich habe ich merkwürdige Mails erhalten, die nur er verfasst haben konnte. Mein Freund war eine äuÃerst pflichtbewusste Person, er kam immer pünktlich zur Arbeit. Die einzige Erklärung dafür, dass er an jenem Tag nicht dort gewesen sein könnte, bestand darin, dass man ihn vorgewarnt hatte. Aber wie sollte das möglich sein? Wie konnte jemand davon wissen, dass der schlimmste, weltgröÃte Terroranschlag aller Zeiten genau an diesem Morgen stattfinden würde? Am Morgen des 11. September 2001. Glaubte Kyle an die Möglichkeit, dass jemand davon erfahren hatte?
Er antwortete nachdenklich. Es gibt ja massenweise Verschwörungstheorien über Nine-Eleven im Internet. Die Hauptthese ist ziemlich simpel und nicht ganz von der Hand zu weisen: Zu diesem Zeitpunkt wurde das Land von George W. Bushs christlichem Republikanerregime regiert, in dem ein Minister extremer war als der andere. Keiner von ihnen fand besonderen Gefallen an New York, der Stadt, die von Yankees, Juden und Europäern bevölkert wurde. Alle Regierungsmitglieder waren auf der Suche nach einem guten Grund, um einen Krieg mit einem Land im Nahen Osten anzufangen. Er würde sowohl der Militär- und der Waffen- als auch der Ãlindustrie dienen, zu der viele der Vertreter der Bush-Regierung direkte oder indirekte Beziehungen unterhielten. Als man schlieÃlich mitbekam, dass ein umfangreiches Terrorattentat auf New York geplant war, wurde es wie ein Geschenk des Himmels angesehen, und als vier Flugzeuge in unterschiedlichen Städten des Landes gekapert wurden und Kurs auf New York
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