01:12:28 EST An: Phädra Meine Liebe, inzwischen sind wieder einige Tage vergangen, und der Frühling wagt sich langsam hervor. Als ich heute Morgen durch den City Hall Park zur Bank ging, habe ich deutlich gesehen, dass die Kirschbäume am Jacob-Wrey-Mould-Brunnen bereits die ersten Knospen treiben. Tief in meinem Inneren weià ich jedoch, dass es die Kirschbäume des City Hall Parks in jener Welt, in der ich mich befinde, nicht mehr gibt. Ich bin woanders. Ich bin ins Labyrinth vorgedrungen, meine Phädra, tief hinein, und ich hoffe sehr, dass du den Faden immer noch in der Hand hältst. Es ist wichtiger denn je. Die vergangene Woche in der Bank war hektisch. Jetzt ist es offiziell, dass wir uns erneut in einer Krisensituation befinden. B hat vor der Belegschaft eine kleine kryptische Rede gehalten. Es läuft bereits eine Untersuchung, um die Ursache der Krise zu finden. Das Management hat durchblicken lassen, dass irgendwelche UnregelmäÃigkeiten aufgetreten sind und diverse Köpfe rollen werden. Sie haben interne Ermittlungen anberaumt. AuÃerdem sind einige neue Gesichter in der Bank aufgetaucht, die uns mit groÃem Misstrauen beobachten. Ich habe irgendwo gelesen, dass inzwischen mindestens achtzig Prozent der staatlichen Aufgaben in den USA an private Firmen delegiert wurden. Die groÃen Unternehmen haben kein Vertrauen mehr in die Polizei und beauftragen eigene Securityleute, die oftmals ehemalige Polizisten sind. Aber das weiÃt Du bestimmt besser als ich, da Du ja jeden Freitag deinen gigantischen Zeitungslesetag hast. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, was die eigentlich genau tun. Es muss sich um ein Ablenkungsmanöver handeln. Sie versuchen die Aufmerksamkeit von den verborgenen Konten abzulenken, die es offiziell nicht geben darf. Denn sonst würde die Bank keine staatlichen Gelder über das Federal-Reserve-System erhalten. Sie bereiten sich auf den G20-Gipfel vor, säen, um nach dem London Summit, der in den ersten Apriltagen stattfinden wird, ernten zu können. Eine Woche haben sie noch Zeit. Unglaublich viele Milliarden stehen auf dem Spiel, da will keiner ein Risiko eingehen. Wir waren damals anders, als wir uns in Ariadne und Phädra verwandelt hatten und Schwestern im Geiste wurden. Als wir in den letzten Jahren auf dem College alles hinter uns lieÃen und uns auf den Weg nach Kalifornien machten. Als wir einfach, ohne zu bezahlen, in die Getty Villa hineinspaziert sind und daraufhin die Nacht im Gefängnis in Malibu verbringen mussten. Ich habe noch das Foto vor Augen, das wir damals gemacht haben. Du hast es mir geschickt, nachdem wir uns aus den Augen verloren. Dieses Foto von dem merkwürdigen Sarkophag und dem Kreis, den Du um eine der Figuren im Gewimmel gezogen hast. Ich werde es immer bei mir tragen. Ich lese gerade Deine Widmung auf der Rückseite: »Dearest Ariadne! Closest forever. Deine Phädra.« Für immer und ewig ist eine ziemlich lange Zeit, meine geliebte Freundin. Ich hoffe zumindest, dass es noch eine lange Zeit werden wird. Denn ganz sicher ist das nicht. In meinen dunkelsten Stunden habe ich das Gefühl, sie könnten es bemerkt haben, dass jemand die versteckten Konten entdeckt hat. Aber es gibt keine Anzeichen dafür. Dennoch muss ich noch tiefer ins Labyrinth vordringen. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob Minotaurus im Innersten der Gefährlichste ist. Ja, Minotaurus, das Gespenst, das Monster. Ist es tatsächlich er? Wie hat er überhaupt überlebt? Er war ein Wunder an Belastbarkeit, was letztlich nur eine beschönigende Umschreibung für einen Workaholic ist. War immer bereits um acht Uhr am Schreibtisch, hat immer sein luxuriöses Abendessen von einem Caterer ins Büro kommen lassen und das Gebäude nie vor neun Uhr abends verlassen. Und vor allem: Er war nie krank. Niemals. Keinen einzigen Arbeitstag im Jahr. Dieses protzige Büro direkt neben den Räumen der Bank. Die monumentale Aussicht. Alles spricht dafür, dass er an seinem Schreibtisch saÃ, an dem er all seine gigantischen Geschäfte abgewickelt hat, und das erste Flugzeug sah, als es sich näherte. Er kann eigentlich nicht überlebt haben. Mit anderen Worten, meine Liebe, wenn er sich nicht in den Twin Towers befand, muss er einen absolut triftigen Grund dafür gehabt haben. Ich habe einen Mann kennengelernt. Ich weiÃ, dass es dafür im Moment wohl nicht der