Gifthauch
Sie sah Derek an.
Er erwiderte ihren Blick. »Ich kann das nicht verlangen.«
Sie schluckte mühsam. Holte tief rasselnd Luft. »Michael … Michael, sei vorsichtig. Versprich mir, um fünf Minuten vor acht seid ihr da weg.«
»Ich verspreche es.«
»Pass auf dich auf. Ich gebe das Handy jetzt wieder an Derek. Michael … Michael, ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Mom.«
Sie reichte Derek das Handy und packte das Lenkrad, als wäre es ein Rettungsring.
»Mike? Ich brauche deine E-Mail-Adresse. Okay. Verstanden. Warte.«
Jill steuerte den Wagen langsam durch den Verkehr und erreichte schließlich den rechten Standstreifen. Sie gab Vollgas.
Derek sendete das Foto Kevin Matsumotos an Michaels E-Mail-Adresse. »Bestätige, wenn du es erhalten hast. Ach ja, Michael?«
»Was?«
»Zwei Dinge. Er hat im Palace gearbeitet. Er könnte also Berufskleidung irgendeiner Art tragen. Und zweitens: Wenn du den Kerl siehst, sprich ihn nicht an. Lass ihn in Ruhe. Hast du verstanden, was ich meine?«
»Keine Konfrontation.«
»Richtig. Tu nichts, außer ihn im Auge zu behalten, und lass uns wissen, was vorgeht. Kapiert?«
»Ja, Sir.«
»Und ich sag es noch mal: Um neunzehn Uhr fünfundfünfzig bist du mit deinem Freund dort verschwunden.«
»Ja, Sir.«
»Gut.«
Er beendete das Gespräch und hielt das Handy steif in der Hand. Der Verkehr bewegte sich nun, da sie die Unfallstelle hinter sich hatten, etwas rascher. Jill fädelte sich wieder ein und trat aufs Gaspedal.
84
19.35 Uhr
Nervös, mit brummendem Kopf, schritt Michael Church ruhelos ein, zwei Minuten lang vor dem Palace auf und ab, während Stillwater ihm das Foto mailte und es sich von Server zu Server bewegte. Schließlich startete er den Browser seines Handys, verband sich mit seinem E-Mail-Konto und lud die Bilddatei herunter. Auf dem winzigen Display betrachtete er das Gesicht, und plötzlich befiel ihn die Furcht, dass er den Kerl selbst dann, wenn er ihn sah, nicht erkennen könnte. Außerdem hatte er nur zwanzig Minuten Zeit, ihn zu finden. Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn – Kampf oder Flucht. Er ballte die Fäuste und schmeckte etwas Bittermetallisches. Kampf.
Er eilte wieder in die Konzerthalle und kehrte zu den Verkaufsständen zurück, wo er Ray vermutete. Aber der war nicht da. Michael suchte in der Menge nach ihm, doch er konnte ihn nirgendwo entdecken. Hatte er die T-Shirts gekauft und war zu ihren Plätzen gegangen?
Michael blickte auf die Uhr und musterte abermals die Menge; diesmal hielt er Ausschau nach Kevin Matsumoto. Es ist unmöglich, dachte er, und ihm war plötzlich ganz beklommen zumute. Es waren einfach zu viele Menschen da. Er betrachtete erneut das Foto und setzte sich dann in Bewegung. Ray musste allein sehen, wie er zurechtkam. Michael hoffte, ihm noch zu begegnen, damit er ihm sagen konnte, was los war. Ehe er aber auch nur in Betracht zog, auf die Hauptebene zu gehen, wollte er auf dem Wandelgang zuerst die Arena einmal umrunden.
Michael schwitzte leicht, während er voranschritt und die Gesichter ins Visier nahm. Bald begriff er, dass er die Frauen, die Schwarzen, die Jugendlichen und die wenigen älteren Leute auslassen konnte.
Rasch stellte er sich darauf ein, nur auf junge Männer in den Zwanzigern mit dunklem Haar und Ziegenbärtchen zu achten und nach der Form von Kevin Matsumotos Kopf Ausschau zu halten. Und währenddessen hörte er innerlich, wie die Uhr tickte. Er musste sich genügend Zeit geben, Ray zu finden und hinauszukommen, wenn sich alles zum Schlechten entwickelte.
Er hatte noch nie eine solche Dringlichkeit empfunden, war sich seines Ziels noch nie derart bewusst gewesen.
Wo war die Schlange?
85
19.36 Uhr
Die Schlange durchschritt ein letztes Mal den Korridor, der die Arena des Palace umschloss. Matsumoto freute sich an den Menschenmengen, genoss den Gedanken, dass er ihr Schicksal in der Hand hielt. Er war ihr Gott, legte fest, wann sie lebten und wann sie starben.
Seine Sinne waren geschärft. Er hörte, wie die Lautsprecher als Einstimmung auf das Konzert Musik von J Slim aus der Konserve spielten. Er spürte die Luftzüge, kalt von den Außentüren, wärmer von der Heizung, und die Körperwärme von Tausenden, roch ihren Schweiß, ihr Bier, ihre Pizza und ihr Popcorn. Hörte die Stimmen reden und lachen, laut, prahlerisch, energiegeladen.
Ein letztes Mal, dachte er. Dann gehe ich in Position.
Die Schlange ist bereit zuzuschlagen.
86
19.37 Uhr
Ray Moretti kam aus der Herrentoilette
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