Gifthauch
geschlendert, eine Tüte mit den beiden T-Shirts unter den Arm geklemmt. Als Michael weggegangen war, um seine Mami anzurufen, hatte Ray den Rest seines Biers heruntergestürzt und sich über Michaels Becher hergemacht. Er hatte ganz schön einen sitzen, das wusste er, aber es war ihm scheißegal. Ray war eigentlich alles scheißegal. Niemand achtete besonders auf ihn. Nicht seine Mutter oder sein Vater mit ihren superwichtigen Berufen, und auch nicht dieses Miststück von Musterschwester mit ihren ganzen Einsen und ihren Collegeplänen und dem ganzen Mist.
Ray konnte schon absehen, dass Michael sich genauso entwickeln würde wie Ann: Er würde sich die ganze Zeit Sorgen über die Zukunft machen, vom Studieren reden, von dem Karatekurs, den er gab, vom College und davon, was er aus seinem Leben machen wollte.
Arschloch!
Ray machte sich um nichts davon Gedanken. Das Leben war dazu viel zu kurz. Die ganze Zeit über sah er seine Eltern nur arbeiten, sie belehrten ihn darüber, wie schwer sie schufteten, um die große Hypothek für das große Haus abzubezahlen, was für eine gute Sache es sei, schwer zu arbeiten, dass sie so gutes Geld verdienten, unter anderem, damit Ann Medizin studieren konnte, und dass er seine Richtung finden musste.
Fuck! Wenn er sich ihr Leben ansah, fand er nicht, dass es so eine große Sache war. Elf Stunden Arbeit pro Tag, langes Pendeln, Sorgen, Sorgen, Sorgen.
Sie mussten mal richtig ausspannen. Und zwar nicht, indem sie auf irgendeine Cocktailparty gingen, wo man drei Martinis trank, oder indem sie einen Urlaub im Club Med machten, wo sie über die Arbeit sprachen, mit dem Büro telefonierten und dreimal am Tag ihre E-Mails abriefen.
Wenn er erwachsen war, wollte er kein Spießer sein wie seine Eltern.
Ray hatte bloß Partys im Kopf und Sex, und das genügte ihm.
Als er aus der Toilette kam und von Michael noch immer keine Spur zu sehen war, sagte er: »Scheiß drauf«, ignorierte den Blick, den ihm jemand im Vorbeigehen zuwarf, und ging zu ihren Plätzen. Michael würde ihn schon finden, wenn er das Gespräch mit seiner Mami beendet hatte.
87
19.38 Uhr
Jill und Derek rasten die I-75 nordwärts. Jill fädelte sich in den Verkehr ein, brach wieder aus, fädelte sich wieder ein. Auf den beiden rechten Spuren schlichen die Wagen Stoßstange an Stoßstange; der Verkehr staute sich vor der Ausfahrt zum Palace an der Lapeer Road. Jill fuhr jeweils auf einer der beiden linken Spuren und schoss an den Wagen rechts von ihr vorbei. Linkerhand entdeckte Derek eine weiße Kuppel. »Ist das das Palace?«
»Nein. Das ist der Pontiac Silverdome.«
Derek schob den Tablet-PC zur Seite, zog sich seine Marschtasche auf den Schoß und begann, darin zu wühlen. Er nahm ein Ersatzmagazin für seine Pistole heraus, das Verbandset und den Atropin-Pen. Er stopfte sie sich in verschiedene Taschen, zog ein kleines Buch hervor, öffnete es und hielt ein Foto ins Innenlicht.
Jill, die sich auf die Straße konzentrierte, warf einen kurzen Blick auf ihn. »Was ist das?«
Er hielt es so, dass sie es sehen konnte. »Meine Ex-Frau.«
»Hübsch.«
Derek nickte. »Sie ist Ärztin und arbeitet jetzt in Texas. Unsere Ehe hat unsere Berufe nicht überlebt.« Seine Hand glitt zu dem Kettchen, das er um den Hals trug, das Kettchen mit dem heiligen Sebastian, den Juju-Perlen und dem vierblättrigen Kleeblatt. War er abergläubisch? Nein, eigentlich nicht. Aber er glaubte an Glück und Unglück. An diesem Tag hatte er eine Glückssträhne gehabt. Er hoffte, dass sie anhielt.
»Achtung«, sagte Jill. Sie trat aufs Gas und riss den Wagen nach rechts. Gleichzeitig drückte sie die Hupe. Mit aufbrüllendem Motor durchschnitt sie den Verkehr, zwang einen Pick-up zum Bremsen und raste auf die gebogene Rampe zur Lapeer Road und zum Palace of Auburn Hills. Hinter ihr quietschten Reifen und ertönten mehrere Hupen.
Vor ihnen war eine Öffnung im Zaun, eine behelfsmäßige Einfahrt zum südlichen Parkplatz des Palace. Ein Streifenwagen des Sheriffs von Oakland County blockierte ihn mit laufendem Blaulicht. Jill steuerte auf die Einfahrt zu und hielt neben dem Deputy, der am Wagen stand. Sie kurbelte die Seitenscheibe herunter und zeigte ihren Dienstausweis. »Wir haben einen Notfall. Wir müssen dringend hinein. Sofort.«
Der Deputy war ein junger Mann mit dunklem, lockigem Haar und einem Schnurrbart. »Gut, Ma'am. Fahren Sie weiter.«
Er nahm eine Absperrung beiseite, und Jill raste an ihm vorbei. Derek warf einen
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