Giftiges Grün
ihrem aufgestellten Blusenkragen passenden Ton und ließ Gerswiller wissen, dass sie einer geregelten Tätigkeit nachgehe und nicht einfach ins Auto springen und losfahren könne, wann es ihm beliebe. Sie müsse erst eine Vertretung finden. Er war nicht beeindruckt.
»Fragen Sie doch Ihre Mutter«, schlug er vor und Lina verstand, dass er Berta Weil für den Ausflug nach Straßburg nicht mit eingeplant hatte.
»Ich will es versuchen, aber ich muss abends wieder zurück sein.« Wie kam sie darauf? Wollte sie einer möglichen Einladung zum Übernachten in Buchfinkenschlag vorbeugen?
»Okay, lassen Sie von sich hören«, sagte er. »Ich freu’ mich, wenn Sie kommen. Auf bald. Adieu.«
Im zweiten Zimmer stand noch immer die runde Platte auf dem Tisch, das Frühstückskarussell aus Buchfinkenschlag. Mit dem Zeigefinger gab Lina ihm einen Stups, und während es sich leise wetzend drehte, ging sie, treppab, vorbei an der Tür der Hausbesitzerin und warf den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten von Cosima Kerz.
»Nein, nein, nein«, rief ihre Mutter ins Telefon, als Lina ihr Ansinnen stellte. »Nicht jetzt. Mein blauer Agapanthus hat drei Knospen. Die ersten drei Knospen nach drei Jahren. Nachwuchs, verstehst du? Ich kann jetzt nicht weg. Wenn du deine Gäste im Stich lassen kannst, ich kann meinen Agapanthus nicht verlassen!« Aber Lina wusste, dass es ein Scheingefecht war.
»Mama, es ist nur für einen Tag. Und wenn ich zurück bin, gehen wir zusammen in die Oper. Sir Terence hat mir zwei Karten für Così fan tutte da gelassen.«
»Aber wirklich nur diesen einen Tag!«
»Nur diesen einen Tag. Du kannst den schwangeren Agapanthus ja auch mitbringen.«
»Der Kübel wiegt eine Tonne. Und hör mal, Lina, du wirst keinen Tee bei ihm trinken. Versprich mir das!«
Lina versprach es. Dann rief sie Johann Gerswiller an und sie verabredeten, wann sie ihn abholen werde.
Unter einem Antiquar hatte sich Fräulein Marie aus dem Dorf Buchfinkenschlag einen älteren Herrn mit Hut in einem nach Mottenkugeln riechenden schwarzen Anzug vorgestellt. Stattdessen stieg ein junger Mann in einem primelgelben Jackett und einem eigenartig gemusterten Oberhemd aus dem Auto, das er auf dem Platz vor der Kirche geparkt hatte, und nur der Hund, der hinter ihm hertrollte, war schwarz.
Weil sie jeden Morgen gründlich den Öffentlichen Anzeiger las, war Fräulein Marie in der Woche zuvor auf die Annonce gestoßen, in der Zeitzeugen gesucht wurden, die über die Geschichte der historischen Villa Buchfinkenschlag Auskunft geben konnten. Ein Antiquariat Weil & Co. war damit befasst, eine Dokumentation zu erstellen. Fräulein Marie war neugierig, der Name sagte ihr etwas. Sie konnte Auskunft geben. Also schrieb sie eine Postkarte, und nun stand dieser junge Mann in seinem roten mit blauen Palmen gemusterten Hemd vor ihrem Buffet.
Marie war stolz, ein Fräulein zu sein, und jeder im Dorf nannte sie auch so. Den Titel einer verheirateten Frau wollte sie gar nicht haben. Über zehn Jahre lang war sie in Buchfinkenschlag in Stellung gewesen und die letzten dreißig hatte sie den Haushalt von Herrn Bruant geführt, bis der das Anwesen neben der Kirche verkauft hatte und Marie mit ihrer Schwester Erna ins Nachbarhaus über den alten Laden gezogen war. Als die beiden sich dort niederließen, war es die Bäckerei Ruppel, inzwischen war es die Diskothek Malibu.
Fräulein Marie fühlte sich ein ganz klein wenig enttäuscht. Ein älterer Herr hätte sie als blitzsaubere Person mit eindrucksvollem Busen und ohne ein einziges graues Haar wahrgenommen. Du hast festen Speck, pflegte Erna zu sagen. Auch darauf war Marie stolz und kleidete ihre Formen in vorteilhafte Hemdblusenkleider. Dieser junge Mann hingegen würde höchstens ihren selbstgebackenen Mürbeteigkeksen und der Holunderblütenlimonade Aufmerksamkeit schenken.
Aber sie war angenehm überrascht, dass der Antiquar Weil tatsächlich zu dem Heinrich Weil gehörte, den sie gekannt hatte, sogar ein Neffe, wer hätte das gedacht. Sie erinnerte sich sehr gut an das kleine Fräulein Lina, so ein goldiges Mädelchen mit blonden Zottelhaaren, die sie jeden Morgen unbedingt offen tragen wollte und die Marie ihr jeden Morgen zu Zöpfen flocht. Er sei wohl nie im großen Haus gewesen, sie würde sich sonst bestimmt an ihn erinnern, aber eine Familienähnlichkeit, ja, die sei ganz unverkennbar. Der Herr Onkel sei verstorben? Dafür sprach sie dem Neffen ihr aufrichtiges Beileid aus.
Sie hatte alles
Weitere Kostenlose Bücher