Giftkuss
Information. Wenn Sie absichtlich etwas Unwahres sagen oder etwas Wichtiges verschweigen, könnten Sie spätestens vor Gericht Schwierigkeiten bekommen.«
Cleo schwieg. Das hörte sich alles so gruselig an. Wenn sie die Wahrheit sagte, bekäme sie doch auch Schwierigkeiten, weil er dann von dem Einbruch erfahren würde.
»Wir müssen davon ausgehen, dass derjenige, der die Facebook-Nachricht geschrieben hat, etwas mit dem Mord zu tun haben könnte.«
»Warum denn das?«, fragte sie etwas zu schnell und zu laut. Sie stand auf und stellte sich ans Fenster, um den eindringlichen Blicken des Kommissars zu entgehen. Dabei war sie sich fast sicher, dass er, wenn er ein halbwegs guter Menschenkenner war, längst wusste, dass sie etwas mit der Nachricht zu tun hatte.
»Ganz einfach: Da hat jemand bewusst eine falsche Spur gelegt.«
»Falsch?«
»Ja, falsch.«
Der Kommissar trat neben sie. Beide blickten sie auf den absolut nichtssagenden Hinterhof des Polizeipräsidiums. Garagen, blaue und graue Müllcontainer, ein Baum, ansonsten Beton und die hellblaue Wand des nächsten Hauses.
»In der Nachricht wurde ich aufgefordert, in der Mülltonne der Diekamps nach einem Hinweis zu suchen, und den haben wir tatsächlich gefunden.«
»Das ist doch gut, oder nicht?«
»Wie man’s nimmt. Unsere Spurensicherung hat die ganze Nacht gearbeitet: Das Haus der Diekamps wies keinerlei Kampf- oder Unfallspuren auf. Aber das Hemd gehörte dem Stiefvater und das Blut auf dem Hemd war von Anja.«
Das war eigentlich eine gute Nachricht und doch konnte sich Cleo nicht freuen, denn in den Schilderungen des Kommissars schwang unablässig ein ABER mit. Cleo wartete angespannt, doch er sprach nicht weiter. Stattdessen fummelte er an seiner Jacketttasche und holte ein Handy heraus. Er schaute auf das Display und steckte es wieder ein.
In der Hoffnung, dass es vielleicht doch kein ABER gab, fragte Cleo: »Kann ich gehen? Der Fall ist ja anscheinend geklärt.«
»Nein! Ist er leider noch nicht. Herr Diekamp hat seine Stieftochter nicht getötet!«
»Was?«
Der Kommissar hatte das in einem Ton gesagt, der keinen Zweifel zuließ. Cleos Kopf brummte. Sie hatte wirklich schrecklichen Durst. Wolff nahm wieder Platz.
»Setzen Sie sich doch bitte noch mal. Haben Sie immer noch keinen Durst? Diese Hitze…« Er fächelte sich mit der Hand Luft in seinen Hemdkragen.
Was soll das hier werden?, fragte sich Cleo, während sie sich brav zurück auf den Stuhl setzte und ihre Hände unter die Oberschenkel legte, um nicht wieder festzukleben.
»Ich darf also noch nicht gehen?«
Wolff drückte auf die Aus -Taste des Aufnahmegeräts und sagte: »Es gibt da noch etwas. Aber vorher hole ich was zu trinken.« Mit großen Schritten verließ er das Büro.
Cleo scannte in Windeseile den Schreibtisch, auf der Suche nach einem möglichen Hinweis, was sie jetzt erwartete. Und da sah sie ihn, den Ordner mit Anjas Namen, ganz oben auf den akkurat gestapelten Akten. Ihr Herz raste.
Sollte sie den Ordner öffnen? Sie versuchte, die Geräusche im Gang zu deuten, und beschloss, es zu wagen. Der Ordner war erstaunlich schwer – was heftete man da alles rein? Sie schlug ihn auf. Namen, Daten, Nummern, die Cleo nicht verstand, etwas Handschriftliches, das sie nicht lesen konnte. Sie blätterte um und stieß auf eine Klarsichtfolie mit Fotos.
Als sie noch gar nicht richtig erkannt hatte, was das oberste Bild zeigte, bereute sie schon, den Ordner überhaupt angefasst zu haben. Sie sah nur noch rot, schlug den Ordner mit einem Ruck zu und schmiss ihn derart heftig zurück auf den Stapel, dass der zur Seite kippte und die Hälfte der Akten mit lautem Getöse auf den Boden krachte. Sie zitterte am ganzen Leib. Was war das, was sie da gerade gesehen hatte? Anja in einer Grube, ihr Kleid weit nach oben gerutscht, überall Erde und Dreck, die Augen geschlossen und dann ihre typischen rot geschminkten Lippen! Wie schrecklich, wie würdelos. Ihr liefen Tränen über die Wangen, als sie Hände auf ihrer Schulter spürte und jemand ihr ein Glas Wasser vor die Nase hielt.
»Hier, trinken Sie das.«
Cleo schüttete in einem Zug das ganze Glas Wasser hinunter. Dann zog sie die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken die Augen trocken.
Der Kommissar setzte sich auf seinen Stuhl und füllte das Wasserglas erneut. Anschließend stützte er seine Ellenbogen auf die Tischplatte, beugte sich weit zu Cleo hinüber und blickte sie mit seinen großen braunen Augen eindringlich
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