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Giftpilz

Giftpilz

Titel: Giftpilz
Autoren: Stefan Alexander; Ummenhofer Rieckhoff
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Wasser. Do muss mer e scharfes Reinigungsmitttel nehme. Im Hausgang, do
git’s jo immer en Haufe Dreck und Bakterie.«
    Thomsen hätte die Hausmeisterin am liebsten umarmt. Monatelang hatte
er nach einem Haus gesucht, in dem Sauberkeit eine wichtige Bürgerpflicht war.
Die meisten Makler hatten von ihrem zu vermittelnden Objekt als porentief rein
gesprochen – aber nur wenigen konnte man diesbezüglich wirklich trauen.
    Er lief hinter der Hausmeisterin her und beobachtete aufmerksam den
Boden des Hausflurs. Zu früh gefreut! Hier bestand eindeutig
Nachbesserungsbedarf.
    Die Hausmeisterin spürte den beunruhigten Blick: »Jo, momentan isch
de betreffende Mieter leider e paar Dag mit seiner Pflicht im Rückstand.« Sie
strich sich über die Schürze und musterte den neuen Mieter in seinem doch eher
ungewöhnlichen Kriminaltechniker-Ganzkörper-Overall. »Aber de Herr isch
eigentlich de einzige Problemfall – und der will eh ausziehe.«
    Thomsen nickte zufrieden. »Bitte bleiben Sie draußen«, sagte er
routinemäßig zu der Hausmeisterin, als sie die Tür zu seiner neuen Wohnung
aufgeschlossen hatte. Dann fiel ihm auf, dass es sich hier ja gar nicht um
einen Tatort handelte. Egal. Beziehungsweise: umso besser. Denn wenn die von
ihm bestellte Reinigungsfirma wirklich ganze Arbeit geleistet hatte, würde ab
jetzt niemand mehr mit Straßenschuhen diese Schwelle überschreiten. Thomsen
streifte sich weiße Plastiküberzieher über die Schuhe, seine Adleraugen
scannten sorgfältig die Diele und das dahinter liegende helle Wohnzimmer. Er
fand keinen Grund zur Beanstandung.
    Drei Stunden später war das Ein-Mann-Umzugsunternehmen
beendet. Zum Glück beschränkte sich seine Habe auf einige wenige und noch dazu
leichte Dinge: In den letzten acht Jahren war er selbst sieben Mal umgezogen –
und einmal seine Frau, nämlich zu ihrer Mutter. Wenn er sich recht entsann –
und er hatte ein legendär gutes Gedächtnis –, dann war das an einem
Pfingstsonntag in der gemeinsamen Kieler Wohnung gewesen, an dem er sie zum
dritten Mal gefragt hatte: »Hast du eigentlich heute schon geduscht?«
    Sie war nicht zurückgekommen, hatte sich seit dem Vollzug der
Scheidung nicht ein einziges Mal mehr gemeldet.
    Thomsen hatte sich längst eingestanden, dass er beziehungsunfähig
war. Er lebte für seinen Beruf, eine Frau störte da nur. Seine Zwänge versuchte
er vor sich selbst damit zu erklären, dass bei beinahe jedem Genie die eine
oder andere Abweichung von der Norm mit der besonderen Leistungsfähigkeit
einherging. Und da waren seine Phobien und sein Sauberkeitswahn doch eher an
der unteren Skala angesiedelt – verglichen beispielsweise mit van Gogh oder
Klaus Kinski.
    Er setzte sich in den Sessel, den er eigens anlässlich des Umzugs
neu erworben hatte, und starrte auf das Regal, das zahlreiche Akten und
Fachbücher enthielt. Thomsen atmete tief durch. Er würde erst einmal duschen,
sobald er das Bad grundgesäubert hatte. Da konnte ihm die Reinigungsfirma lange
versichern, er könne nun sogar problemlos aus dem Abflusssieb der Dusche essen.
    Von wegen!
    Thomsen bewaffnete sich also mit einem – selbstverständlich
ebenfalls neuen – Putzeimer, füllte ihn mit Wasser und träufelte das stärkste
Desinfektionsmittel, das es auf dem Markt gab, in einer Überdosis hinein.
    Plötzlich klingelte es an der Tür.
    Das brachte Thomsen aus dem Konzept. Kollege Winterhalter? Der hätte
vorher angerufen.
    Die Sekretärin? Die erst recht.
    Die Zeugen Jehovas? Die Tür blieb zu.
    Wieder klingelte es. Lauter, dringlicher. Und: Es klingelte so, als
ob die Person vor seiner Wohnung stand – und nicht draußen vor der Haustür.
    Die Hausmeisterin? Thomsen ging – den Wassereimer in der Hand – in
die Diele, bückte sich, kniff die Augen zusammen und versuchte durch den
schmalen Spalt am Boden der Wohnungstür zu schauen, doch er konnte nichts
erkennen. Er ärgerte sich, dass er in eine Wohnung ohne Türspion gezogen war.
    Wieder klingelte es.
    »Ja?«, rief Thomsen energisch.
    Keine Antwort. Und wieder das Klingeln.
    Unverschämtheit! Was konnte denn so dringend sein? Stand er im
Halteverbot? Blockierte die Rettungsausfahrt? Sicher nicht.
    Noch ein Klingeln.
    Thomsen riss die Tür auf.
    »Aaaah!«, schrie er dann und ließ den Eimer fallen, sodass die Diele
und ein Teil des Hausflurs eine Sonderwäsche bekamen.
    »Aaaah!«, schrie auch der Mann, der ihm gegenüberstand, und ließ die
volle Rotweinflasche fallen, die er in der Hand gehabt hatte.
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