Giftspur
die flachen Stufen, die zur Haustür hinaufführten.
Claudia Reitmeyer traf die Nachricht vom Ableben ihres Vaters mit aller Härte. Kreidebleich drohte sie in sich zusammenzusacken, und es war nur Ralph Angersbachs Reflexen zu verdanken, dass er sie rechtzeitig auffing und in Richtung Wohnzimmercouch bugsierte.
»Tot?«, hauchte die junge Frau, Sabine schätzte sie auf Anfang zwanzig, mit entkräfteter Stimme und noch immer ungläubig. »Wann, ähm, ich meine, wo?«, stammelte sie, dann: »Und wie?«
»Wir wissen leider noch keine Details über die Todesursache«, setzte die Kommissarin an, »denn es gibt keine sichtbaren Verletzungen. Ist Ihr Vater regelmäßig entlang der Nidda gejoggt?«
»Fast jeden zweiten Tag«, bestätigte Claudia.
»Hatte er ein Herzleiden oder andere gesundheitliche Dispositionen?«
»Nein, Herrgott. Er war kerngesund.«
Die Kommissarin spürte intuitiv, dass ihr Gegenüber sich allmählich erholte. Der Wechsel von schockierter Trauer zu zynischer Ablehnung – ein beinahe klassisches Verhalten gegenüber dem Überbringer von Todesnachrichten. Doch all die Routine, falls man überhaupt von einer solchen sprechen durfte, machte das Aushalten solcher Momente nicht einfacher.
Sabine Kaufmann atmete durch die Nase ein, gab der jungen Frau einige Sekunden, dann fuhr sie fort: »Hatte Ihr Vater Neider oder Feinde?«
»Neider?« Claudia Reitmeyer lachte spöttisch und wies mit dem Daumen hinter sich, wo ein Panoramafenster den Blick auf eine weitläufige Grünfläche preisgab, dahinter zwei Streifen Ackerland, durchschnitten von der Bundesstraße, und in einiger Ferne die Häuser der kleinen Gemeinde. »Suchen Sie sich einen aus.«
»Ihr Vater hatte also Feinde?«, wiederholte Ralph Angersbach.
»Wie Sie es nennen, ist mir egal«, erwiderte Claudia kühl und schniefte kurz. »Warum fragen Sie diese ganzen Dinge eigentlich? Denken Sie, er wurde ermordet?«
»Halten Sie das denn für möglich?«, fragte Angersbach prompt zurück, und Claudia zuckte erschrocken zusammen.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie dann.
»Frau Reitmeyer, wir machen Ihnen nichts vor«, schaltete Sabine sich wieder ein und versuchte, dabei fürsorglich zu klingen. Wenn Angersbach es schroff und direkt mochte, würde sie gerne den empathischen Gegenpart übernehmen.
Kein Problem.
»Momentan sieht es so aus, als sei Ihr Vater einem Herzanfall erlegen oder etwas in dieser Art. Hinweise auf einen gewaltsamen Tod haben wir auf den ersten Blick nicht gefunden.«
»Aber er hatte doch nichts«, wimmerte Claudia mit hilfesuchender Miene. »Vor ein paar Jahren ist er noch beim Frankfurt-Marathon mitgelaufen.«
»Eine Obduktion wird uns Klarheit verschaffen«, sagte Angersbach, und sofort fügte Sabine hinzu: »Bis dahin müssen wir in jede Richtung ermitteln. Daher auch unsere Frage nach Feinden. Gibt es jemanden, den Sie konkret benennen könnten?«
Claudia sah zu Boden und schüttelte nach einigen Sekunden den Kopf. Ein leises »Nein« war zu vernehmen, wirkte auf Sabine jedoch mehr wie ein Ausweichen.
»Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«, fragte sie weiter.
»Gestern«, murmelte Claudia, dann schnellte ihr Kopf wieder nach oben, und ihre Augen erhellten sich. »Nein, heute!«, rief sie. »Das heißt, ich habe ihn gehört, aber nicht gesehen. Er läuft sonntags meist zu nachtschlafender Zeit los.«
»Und Sie?«
»Ich lag noch im Bett.«
Bevor Sabine ihre nächste Frage, ob das jemand bezeugen könne, ausformulieren konnte, kam bereits von ihrem Kollegen die obligatorische Kurzform.
»Allein?«
»Wie?« Irritiert schüttelte Claudia Reitmeyer den Kopf. »Was geht Sie das an?«
»Es geht um Ihr Alibi, bedaure«, erläuterte die Kommissarin, »aber ich muss Sie bitten, die Frage zu beantworten. Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?«
»Gilt eine Katze als Zeuge?«, erwiderte die junge Frau und rang sich ein gequältes Lächeln ab.
»Wer außer Ihnen lebt noch auf dem Hof?«, wollte Angersbach wissen und schlug lässig das Bein übers Knie, während sein langer Oberkörper sich tief in das Polster der Couch drückte. Das offene Wohnzimmer, welches ohne Türen in den Flur und seitlich in einen Küchenbereich überging, war angefüllt mit hölzernen Bauernmöbeln, teils unbehandelt, teils in bunten Farben und mit Blümchenmotiven bepinselt. Strohschmuck und getrocknete Sträuße obenauf; ein Hauch von Allgäu, nur dass keine Kruzifixe und andere Devotionalien an den Wänden hingen. Die hohe
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