Giftspur
tolle Zusammenarbeit zu werden.
»Nehmen Sie’s doch nicht als persönlichen Angriff«, schmunzelte Angersbach nach einigen Sekunden versöhnlich. »Aber Sie sehen ja selbst, es erzielt eine gewisse Wirkung, wenn man das Kind beim Namen nennt. Funktioniert als Taktik mindestens so oft wie ein Wellness-Paket, wetten?«
»Abwarten«, brummte Sabine. »Ich werde jedenfalls weiterhin empathisch mit meinen Gesprächspartnern umgehen, auch mit Frau Reitmeyer. Im Übrigen schätze ich es nicht, als Testobjekt missbraucht zu werden.«
»In Ordnung, belassen wir es dabei. Ich bin weder mürrisch noch emotionslos, aber beschränke mich lieber aufs Beobachten als aufs Reden. Jedem das Seine, Sie können wohl beides.«
Den letzten Satz fügte er bewusst hinzu, um bei seiner Kollegin nicht wieder ein Gefühl der Wertung zu verursachen. Beobachtung und Konversation waren gleich wichtig, das wusste er nur allzu gut.
»Ich versuche es zumindest«, knüpfte Sabine an. »Stichwort Beobachtung: Was haben Sie denn so alles wahrgenommen?« Ihr Daumen deutete hinter sich, in Richtung Haupthaus. Hinter einer mannshohen Hecke glaubte sie, eine Bewegung zu erahnen, verharrte kurz in ihrem Blick, aber es tat sich nichts.
»Frau Reitmeyer ist mitten in der zweiten Trauerphase, sie verhält sich augenscheinlich normal«, sprach Angersbach und blies sich warme Luft in die Handflächen, die er anschließend einige Male aneinanderrieb. »Leider verschwimmen die ersten beiden Phasen beim Überbringen einer Todesnachricht miteinander, aber dennoch verhält sie sich den Umständen entsprechend normal. Ich halte es momentan auch für unwahrscheinlich, dass ihre Emotionen gespielt sind, allerdings verheimlicht sie uns etwas.«
»Spielen Sie auf meine Frage nach den Feinden an?«
»Ja. Sie verbirgt etwas vor uns, dessen bin ich mir sicher.«
»Das Gefühl hatte ich auch«, pflichtete Sabine bei. »Was halten Sie von der Frischluftpause? Grundbedürfnis oder Kalkül?«
»Von beidem etwas«, schätzte Angersbach. »Sie denkt natürlich über die Personen nach, die sie uns nennen wird. Ihr Augenmerk liegt dabei aber nicht auf den Namen, sondern vielmehr auf den Hintergrundinfos, die wir dazubekommen werden.«
Auf dem Weg zurück zum Haus verlangsamte Sabine Kaufmann ihren Gang und musterte prüfend die in tausend Verästelungen wuchernde Hecke, die trotz ihrer Kargheit an Blattwerk so dicht war, dass man das Dickicht kaum einen Meter durchblicken konnte. Der Boden war teils bemoost, teils steinig. Sollte tatsächlich jemand hier gestanden haben, so hatte er keine Spuren hinterlassen.
Claudia Reitmeyer wirkte wie ausgewechselt, obwohl seit der Unterbrechung kaum zwanzig Minuten vergangen waren. Sie wirkte auf bedrückende Weise gefasst, ihre Bewegungen waren statisch, ihre Miene fast regungslos. Nachdem die Kommissare sich zuvor gegen ein Heißgetränk entschieden hatten, war sie mit ihnen aus dem Haus gegangen, dann jedoch in Richtung eines der Nebengebäude verschwunden. Irgendwann hatten sich ihre schnellen Schritte über den Pflastersteinen verloren, und als Ralph und Sabine zurück ins Haus kamen, wartete sie bereits im Wohnzimmer.
»Hier sind die aktuellen Geschäftsunterlagen«, eröffnete sie sachlich und deutete auf einen flachen Papierstapel, der größtenteils aus aufgefalteter Korrespondenz und ausgedruckten E-Mails zu bestehen schien. »Dem Terminkalender nach hatte mein Vater gestern Nachmittag um sechzehn Uhr eine Besprechung mit Dr. Elsass. Victor ist der Forschungsleiter unserer Saatgutwerkstatt. Telefonate kann ich leider nicht nachvollziehen, da wir keine digitale Anlage haben. Außerdem gibt es handschriftliche Notizen im Kalender, die ich nicht entziffern kann. Hier.« Sie griff neben sich und legte einen schmalen Querkalender mit Drahtkammbindung auf die Papiere. Zeitgleich schnellten die Köpfe der Ermittler nach vorn, und um ein Haar wären diese zusammengestoßen. Sabines Finger erreichten den Kalender zuerst, und sie drehte die Schrift in ihre Richtung. Sie erkannte krakelige Bleistiftnotizen, einiges musste eine Art Steno sein, außerdem für den Vortag in der entsprechenden Stundenzeile den Vermerk V.E.
»Mist, nur Abkürzungen oder Hieroglyphen«, stieß Angersbach mürrisch durch die Zähne.
»Dürfen wir den Kalender mitnehmen?«, erkundigte Sabine sich bei Claudia.
»Nur zu. Nehmen Sie den ganzen Stapel aus dem Posteingangsordner mit, dann erhalten Sie einen Überblick.«
»Danke. Wie war das
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