Giftspur
Decke zeigte offenes Gebälk, in die herabhängenden Lampen waren cremeweiße Energiesparbirnen eingedreht, die Holzfenster schienen neu zu sein. Alles in allem steckte in dem Anwesen eine beachtliche Detailverliebtheit – und jede Menge Geld.
»Leben im Sinne von Wohnen? Nur mein Vater und ich«, beantwortete Claudia Reitmeyer die Frage, dann drehte sie den Kopf zur Seite und rollte mit den Augen. »Aber ein und aus gehen hier regelmäßig Dutzende Personen.«
Sabine folgte ihrem Blick, er wies in Richtung einer zugezogenen Schiebetür aus Milchglas, hinter der sich schemenhafte Konturen abzeichneten.
»Das Büro?«, folgerte sie, als sich ihr Blick mit dem der Tochter traf, und Claudia nickte.
»Hier geht es an sechs Tagen in der Woche zu wie in einem Taubenschlag.« Sie schluckte schwer und kniff die Augenwinkel zusammen, um eine Träne zu unterdrücken. »Was soll nun bloß werden?«, hauchte sie und verbarg das Gesicht hinter den Händen.
»Sollen wir später noch einmal wiederkommen?«, fragte die Kommissarin, nach vorn gebeugt, und kam damit dem Bestreben ihres Kollegen zuvor, selbst eine Frage zu stellen. Sie warf ihm einen raschen Blick zu, Angersbach runzelte die Stirn, gab ihr dann aber mit einem Nicken seine Zustimmung zu verstehen.
»Müssen Sie das denn?«, fragte Reitmeyers Tochter.
»Ich fürchte, ja. Wir müssen den Tagesablauf Ihres Vaters, so gut es geht, rekonstruieren, außerdem brauchen wir eine Liste der Personen, mit denen er zuletzt Kontakt hatte.«
»Kann ich Ihnen das nicht auch zumailen?«
»Nein«, erwiderte Angersbach knapp, aber bestimmt, was Claudia zu einem irritierten Blick veranlasste. »Wir benötigen zu den Namen auch einige Informationen«, erklärte er daher.
»Also gehen Sie doch von Mord aus«, schlussfolgerte die junge Frau.
»Wir prüfen alle Möglichkeiten«, schaltete sich Sabine wieder ein, der nicht entgangen war, dass Claudia Reitmeyer mit Angersbachs Gesprächstechnik offenbar ein Problem hatte. »Wenn es der Sache dient, so schnell wie möglich Gewissheit zu erlangen, ist das doch in unser aller Interesse, oder?«
Oha,
dachte sie sofort,
das war suggestiv.
Nicht gut. Doch ihr Gegenüber nickte zögerlich.
»Können wir eine Viertelstunde Pause machen?«, fragte sie dann. »Sie können sich gerne einen Tee oder Kaffee kochen, ich brauche frische Luft. Danach gebe ich Ihnen die Liste.«
Ralph Angersbach lehnte an einer senkrecht in den Boden getriebenen Eisenbahnschwelle, die nun als Pfosten eines Weidezauns ihren Dienst verrichtete.
Recycling en détail,
dachte er amüsiert, wobei diese Zweckentfremdung der harten, schweren Hölzer beileibe nicht unüblich war. Auch ohne Hintergedanken. Die Grasfläche war zu weiten Teilen von einer gelblichen Tönung durchwachsen. Tautropfen wiegten sich an den Spitzen der längeren Gräser in der kühlen Brise, die eingesetzt hatte. Er schätzte die Außentemperatur auf fünf Grad, viel zu kalt, selbst für ihn, der sich für einigermaßen abgehärtet hielt.
»Sie reden nicht gerne um den heißen Brei herum, wie?«
Der angenehme Mezzosopran in Sabine Kaufmanns Stimme war eine willkommene Abwechslung zu dem schrillen Gekreische, in dem Janine sich derzeit hauptsächlich artikulierte.
»Mag sein«, brummte er nachdenklich, noch immer mit Blick über die Weite der vor ihm liegenden Koppel. Ein Feldhase zeigte sich am anderen Ende, verschwand jedoch sofort wieder im angrenzenden Gestrüpp. Ralph wandte sich seiner neuen Kollegin zu, die nur einen Meter von ihm entfernt stand, so dass er seinen Blick senken musste.
»Bisher hat das jedenfalls immer bestens funktioniert.«
»Verstehe«, war Sabines knappe, unterkühlte Antwort.
»Haben Sie ein Problem damit?«
Mist.
Jetzt hatte er sie tatsächlich in die Verteidigungsposition gedrängt.
»An und für sich nicht«, begann sie mit Bedacht, »aber da drinnen sitzt eine junge Frau, die gerade ihren Vater verloren hat.«
»Oder eine junge Abstauberin, die gerade ein Bio-Imperium geerbt hat«, widersprach Angersbach. »Oder sind Sie so ein Gutmensch, dass ein paar Krokodilstränen genügen?«
»Blödsinn!«, gab Sabine verärgert zurück und wandte sich mit verzogenem Mund zur Seite. »Aber wenn Frau Reitmeyer aufgrund mangelnder Empathie die Schotten dicht macht, haben wir nichts gewonnen. Da versuche ich es lieber auf die freundliche Tour. Deshalb schließe ich sie als Verdächtige doch nicht aus.«
Prima, eine Vollspektrumsrechtfertigung.
Das versprach ja, eine
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