Giftspur
Konversation ergab sich nicht, obgleich Sabine nur allzu gerne ein wenig mehr über ihren eigenbrötlerischen Kollegen erfahren hätte. Doch sie mahnte sich zur Geduld, wollte sich nicht anbiedern, denn genau genommen war sie selbst im Ausplaudern privater Angelegenheiten auch sehr reserviert. Also sprachen sie über den Fall, über Professor Hack und den gesichtslosen Anwalt, der die Sektion ohne sichtbare Anteilnahme über sich hatte ergehen lassen, weil es nun mal seine Pflicht gewesen war.
In der Dienststelle selbst herrschte Aufbruchstimmung, Schichtwechsel, Dienstschluss, das übliche Treiben. Weder auf dem Anrufbeantworter noch im Posteingang befanden sich interessante Neuigkeiten, und von Konrad Möbs war nichts zu sehen, was beide Kommissare nicht bedauerten.
Sie verließen das Büro, um die Befragung von Vera Finke in Angriff zu nehmen. Sie wohnte in Massenheim, nur einen Steinwurf entfernt, und wie selbstverständlich übernahm Sabine die Fahrt. Angersbach stieg kommentarlos ein, was sie wunderte, und wenige Minuten später erreichten sie den südlichen Ortsrand des benachbarten Ortsteils. Das Haus, in dem Vera Finke gemeldet war, unterschied sich deutlich von den anderen Einfamilienhäusern. Solarkollektoren krönten das flach abfallende Dach auf metallenen Gerippen, darunter wucherte der buschige Bewuchs des Gründachs. Die Wandflächen waren zum Teil holzverkleidet und in fleckigem Blassblau angelegt, ein chromglänzender Kaminabzug klebte an der Seitenwand. Der wild bewachsene Garten glich eher einer Schmetterlingswiese, ein Bild, das Ralph Angersbach seltsam vertraut vorkam. Zu dieser Jahreszeit jedenfalls, ohne Blüten und Falter, war es kaum mehr als ein verwahrloster Garten.
Sabine schritt über den mit Steinplatten ausgelegten Weg, dann zwei hölzerne Stufen hinauf und suchte den Klingelknopf. Stattdessen fanden ihre Augen eine Glocke mit herabhängender Ziehkette. Auch gut.
»Wir werden beobachtet«, raunte Angersbach, der hinter sie getreten war, und wies mit dem Kopf dezent nach links. Die Kommissarin drehte sich reflexartig in die angedeutete Richtung, vernahm aber nur noch eine schnelle Bewegung hinter einem der Fenster. Der Vorhang schwang verräterisch noch einige Male hin und her.
»Wachsame Nachbarn, wie?«
»In so einer biederen Gegend fällt man eben auf, wenn man aus dem Raster fällt«, seufzte Angersbach. »Kommen Sie mal nach Okarben«, setzte er nach und verdrehte die Augen.
»War das eine Einladung?«
Sabine Kaufmann griff nach der hölzernen Kugel am unteren Ende der Kette und zog. Beim durchdringenden Klang der Glocke zuckte sie zusammen, lächelte dann aber vielsagend.
»Allein dafür dürften sie ihre Nachbarn schon verachten.«
»In Zeiten, wo man schon gegen Kirchenglocken klagt …«, pflichtete Ralph bei, wurde jedoch durch die abrupt aufschwingende Haustür unterbrochen. Vor den beiden Kommissaren stand ein dürres Männchen, eins achtzig groß, in ockerfarbener Leinenhose, an dessen Körper kaum mehr als Haut und Knochen zu sein schienen. Auf dem dünnen Hals ruhte ein im Verhältnis viel zu füllig wirkender Kopf, die Ellbogengelenke traten wie Geschwulste aus den Armen, die wie verloren in T-Shirt-Ärmeln steckten. Das tatsächliche Alter des wettergegerbten Gesichtes ließ sich schwer einschätzen. Auf den ersten Blick deutete alles auf einen Sechzigjährigen hin. Doch sowohl die Körperspannung als auch der wachsame, unstete Blick des Mannes waren von jugendlichem Habitus.
»Ja?« Seine Stimme war rauh, aber unerwartet tief und voluminös.
Angersbach stellte sich selbst und seine Kollegin vor. Ohne zu zögern, brachte er dabei auf den Punkt, welcher Abteilung sie angehörten.
»Mordkommission?«, fragte der Schmalbrüstige ungläubig.
Sabine nickte langsam, sie selbst hätte sich wohl intuitiv auf die Bezeichnung
Kriminalpolizei
reduziert, aber nun lagen die Karten eben offen auf dem Tisch.
»Wir sind auf der Suche nach Vera Finke«, erklärte sie dem etwas verloren im Türrahmen stehenden Mann.
»Vera?«, fragte dieser wieder zurück, und Sabine entging nicht, dass ihr Kollege offensichtlich allergisch darauf reagierte, wenn ein Gesprächspartner die ihm gestellten Fragen wiederholte, anstatt sie zu beantworten.
»Vera Finke«, bekräftigte sie daher noch einmal. »Laut Personenregister ist sie hier gemeldet.«
»Ähm, ja, natürlich«, brummelte der Mann und fuhr sich durch das schüttere, ehemals schwarze Haar, welches zu weiten Teilen ergraut
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