Giftspur
diesem düsteren Weg, daran änderten ihre Dienstwaffe und diverse Nahverteidigungstechniken, die sie beherrschte, auch nichts. Sie passierte einige Fitnessgeräte, die auf der Wiese des angrenzenden Parks aufgestellt waren, in der Ferne bestrahlten die Lampen eines parallel verlaufenden Weges einige Kunstplastiken. Rechter Hand zog eine Steintreppe vorbei, eine Infotafel verriet, dass hier einst ein alter Gerbplatz gewesen war. Die zerfurchten Stämme einer Dreiergruppe von Sequoia-Bäumen reckten sich pfeilgerade in den Nachthimmel, zwei von ihnen standen so eng, dass ihre Konturen ineinander verwuchsen.
Endlich erreichte die Kommissarin den ersten Abzweig auf den Parkplatz. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Ulf Reitmeyer auf den gelgepolsterten Sohlen seiner Laufschuhe federnd denselben Weg genommen hatte wie sie, ebenso einsam und nichtsahnend. Wann hatte er es gemerkt? Hatte er pausiert, hatte er Kurzatmigkeit oder Herzschmerzen gespürt? Oder war das Undenkbare eingetreten? Ein metallischer Knall, der so plötzlich erklungen war, dass er ihn wie ein Mündungsfeuer erschreckte; ein Schlag aus heiterem Himmel, der seine Herzmuskulatur einfror, und zwar so lange, dass die lebensgewährende Pumpe ihren Dienst für immer versagte? Und: Welcher Mörder würde sich auf einen derartigen Zufall verlassen? Oder war das schleichende Gift genau aus diesem Grund gewählt worden? Um eine perfide Tat als natürlichen Tod beim Sport zu tarnen und keine Leiche im Haus herumliegen zu haben. Oder auf dem Hof. Es war zum Mäusemelken. Zu viele Verdächtige, zu viele Widersprüche. Außerdem stellte sich die Frage, wer das Motiv
und
die Möglichkeit hatte, das Gift zu beschaffen und entsprechend zu plazieren. Würde Vera Finkes Verhaftung tatsächlich all diese Unklarheiten beseitigen können?
Als Sabine den Fundort von Reitmeyers Körper erreichte, stellte sie resigniert fest, dass sie nicht schlauer war
»als wie zuvor«.
Bissig drängte sich jener berühmte Ausruf aus Goethes Faust in ihre Erinnerung und piesackte die Kommissarin so lange, bis sie die düsteren Gedanken an Reitmeyers Todesumstände aus ihrem Kopf verbannte und auf den kommenden Morgen vertagte.
Einige Kilometer von der Bad Vilbeler Burg entfernt, rappelte sich ein Mann in seiner einsamen Behausung auf. Es war warm und stickig in dem engen Raum, und sein Atem ging schwer. Er hatte zwei große Gläser Whiskey getrunken, eine Nachlässigkeit, die er nun bedauerte, denn der Alkohol machte sich lähmend in seinen Bewegungen und Reflexen bemerkbar.
Verdammt.
Er war nicht betrunken, dazu brauchte es schon erheblich mehr, doch für seine Pläne stellte ein sich anbahnender Rausch eine immense Gefahr dar. Er öffnete ein Fenster, und eiskalte, nach frisch aufgeworfener Erde schmeckende Luft drang nach innen. Ein, zwei tiefe Atemzüge durch die pulsierenden Nasenflügel, dann erzielte der Sauerstoff seine Wirkung. Wie verflogen schien die Benommenheit, als die wild entschlossenen Gedanken wieder die Oberhand gewannen. In all ihrer brutalen Klarheit rasten sie durch seinen Kopf und zwangen ihm einen Schauer über den Rücken.
Doppelmord. Reitmeyer und Kötting. Um den einen war es schade, um den anderen nicht. Die Polizei würde keine Ruhe geben, bis sie jemanden verhaften würde.
Er hatte es immer und immer wieder durchgespielt. Sie
konnten
ihm nicht auf die Spur kommen, aber was bedeutete das schon? Man hörte oft genug von Justizirrtümern. Es wurden regelmäßig Unschuldige verhaftet, besonders dann, wenn die wahren Täter mit hoher Vorsicht vorgegangen waren, oder auch, wenn der öffentliche Druck auf den Polizeiapparat stieg. Vor dieser Willkür war niemand sicher. Aber so weit musste es nicht kommen. Er fühlte den warmen Schweiß, der sich unter den Gummihandschuhen gesammelt hatte, und nahm den Papierbogen vom Tisch. Die Worte lasen sich verschwommen, schienen zu zittern, doch er zwang sich zur Konzentration. Er faltete den Bogen zweimal, dabei knisterten die aufgeklebten Fragmente aus Glanzpapier, und es roch nach Klebstoff. Vor zwei Stunden, als er seine Arbeit begonnen hatte, war ihm zuerst in den Sinn gekommen, mehrere Kopien zu erstellen. Diese Idee hatte er jedoch verworfen, als er feststellte, wie mühsam das Vorankommen war. Außerdem: je mehr Exemplare, desto größer das Risiko, verräterische Spuren zu hinterlassen. Seine unsteten Blicke suchten die Uhr, es war beinahe Mitternacht. Langsam, ohne Eile, schob er das Papier in einen weißen
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