Giftspur
Briefumschlag und drückte im Anschluss die Klebelaschen fest aufeinander. Er spürte die Wärme, die entstand, als er den Verschluss mit Daumen und Zeigefinger entlangfuhr, um sicherzugehen, dass der Inhalt nicht herausfallen würde. Er suchte einen Kugelschreiber und malte einige Kringel auf eine Zeitung, um zu testen, ob die Miene noch schrieb. Dann setzte er den Stift an … und erstarrte. Es war eine bittersüße Situationskomik, die ihm ein mürrisches Lächeln aufs Gesicht zeichnete.
Was schreibt man auf einen anonymen Brief?
»Claudia«?
Nein.
Nichts?
Doch damit lief man Gefahr, dass das Schreiben im Wust der nicht geöffneten Postwurfsendungen verlorenging.
Er überlegte noch eine Weile, bis seine Gedanken sich etwas beruhigt hatten, dann formte er einige große Lettern mit der schwarzen Tinte, die er mit einem Ausrufezeichen besiegelte. Er betrachtete sein Werk mit einem diabolischen Lächeln und malte sich aus, wie Claudia am nächsten Morgen den geheimnisvollen Brief mit der Aufschrift »EILT!« in den Händen halten würde, völlig im Unklaren darüber, wer ihn ihr sandte und was sie im Inneren des Kuverts erwartete.
Jedem das Seine, dachte der Mann, als er sich seiner Kleidung bis auf die Unterwäsche entledigte. Er schlüpfte in eine anthrazitfarbene Arbeitshose, wählte dazu einen schwarzen Rollkragenpullover und versenkte seine in Wollstrümpfen steckenden Füße in ein Paar Lederstiefel. Der gespenstisch helle Mond war längst wieder hinter Wolken verschwunden, und lautlos wie eine Katze verschwand er ungesehen in der Finsternis. Das einzig Grelle an ihm war das leuchtend weiße Kuvert, welches er, bis er vor Claudia Reitmeyers Briefkasten stand, unter seinem Pullover verbarg.
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Mittwoch, 6 . März
S abine Kaufmann hatte ihre Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Nach Jahren der Kurzhaarfrisuren – und deren Möglichkeiten waren weiß Gott Grenzen gesetzt – hatte sie sich dazu durchgerungen, ihr blondes Haar wieder länger zu tragen. Michael war daran nicht ganz unbeteiligt gewesen, denn wann immer Sabine laut darüber nachgedacht hatte, an welcher Stelle sie im Nackenbereich noch mehr kürzen lassen könne, ließ er die Bemerkung fallen, dass ein anmutiges Gesicht einen goldenen Rahmen verdiene. Geschmeichelt hatte die Kommissarin dem Drängen schließlich nachgegeben, auch wenn die Übergangsphase zwischen Bubikopf und schulterlang kaum auszuhalten gewesen war. Vor dem Badezimmerspiegel durchströmte sie eine wohlige Wärme, als sie Michaels Namen dachte und zum dritten Mal die liebevolle SMS las, die er ihr am frühen Morgen gesendet hatte.
Darin schrieb er unter anderem, dass ein Seminartag ausfiele und er sich schon am frühen Nachmittag auf die Heimreise begeben könne.
Heute!
Und doch schien dieser Gedanke nicht nur befreiend auf Sabines Gemüt zu wirken. Ein Schatten lag auf ihrer Seele, ohne konkret Gestalt anzunehmen, aber seine düstere Kühle war nicht zu ignorieren. Unsicher klopfte sie ihre Gedanken nach einer Erklärung ab, doch es fand sich keine, sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte. Lediglich eine Belanglosigkeit drängte sich immer wieder in den Vordergrund, doch das konnte nicht der Grund sein.
Oder?
Es war kaum mehr als nur ein Zufall, dass das Gespräch gestern nicht auf Michael gefallen war. Angersbach hatte auch nicht von seinem Liebesleben gesprochen, andere Themen waren wichtiger gewesen. Es ließ sich demnach völlig rational erklären.
Oder?
Die Kommissarin zwang sich schließlich dazu, die verwirrenden Gedanken zu verjagen, denn der Tag würde auch ohne private Verstrickungen anstrengend genug werden. Das nächste Essen kam bestimmt, die nächste Fahrt zu einer Vernehmung oder eine andere Gelegenheit, um Michaels Namen ungezwungen zu erwähnen. Sabine Kaufmann entschied, die Sache pragmatisch anzugehen.
In der Dienststelle wunderte sie sich kurz, dass Angersbachs Geländewagen bereits auf dem Parkplatz stand, das Büro aber leer war. Dann fiel ihr ein, dass er seinen Wagen am Vorabend nicht mehr hatte holen können und heute mit der S-Bahn kommen wollte. Eine simple Logik, immerhin hatte er es von seiner Haustür bis zur Bahnlinie nicht weit, und der Fußweg vom Bahnhof zur Polizeistation war ebenfalls in wenigen Minuten zu bewerkstelligen.
Selbst mit Kater,
dachte Sabine lächelnd, als sie Platz nahm und zum Telefonhörer griff.
Ihr erster Gesprächspartner war Mirco Weitzel, der sie davon in Kenntnis setzte, dass die Verhaftung
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