Giftweizen
Notaufnahme nachfragen. Dann wurde uns endlich eine lang erwartete Lieferung mit Medikamenten vom Depot in Stendal zugestellt. Das tägliche Wäscheauto war sicher auch da. Möglicherweise auch der eine oder andere Mitarbeiter aus einem der Bestattungshäuser. Die kommen fast täglich. Das lässt sich aber alles feststellen.«
»Wenn Sie mir eine Liste der Einlieferungen, sonstigen Fahrten und der momentan im Krankenhaus agierenden Handwerker anfertigen würden? Und bitte nicht nur für gestern und heute früh, sondern auch für vorgestern.«
Klaglos notierte sich Dr. Frederich ein paar Stichworte, was Judith Brunner ermutigte, weiter nachzufragen: »Wer vom Personal hat eigentlich Zugang zu den Räumen der Pathologie?«
»Tja, praktisch jeder, der einen weißen Kittel trägt, wenn Sie verstehen. Wir haben da keine besonderen Vorkehrungen getroffen«, räumte Dr. Frederich ein. »Sicher, es gibt eine verschlossene Glastür da unten. Doch wenn jemand ein Behältnis für Gewebeproben in die Höhe hält oder mit einer Akte wedelt, gar einen abgedeckten Leichnam auf einer Rollliege hat und andeutet, er müsse damit dort hinein …« Bedauernd hob er die Schultern.
»Dr. Frederich, wir müssen uns hier im Krankenhaus mit einigen Leuten unterhalten, um die Ereignisse rekonstruieren zu können. Möglicherweise benötigen wir auch Zugang zu Personalakten, Dienstplänen oder anderen Unterlagen.«
Seufzend meinte Dr. Frederich: »Das hatte ich mir schon gedacht. Ich werde mit meinen zuständigen Mitarbeitern reden und das Nötige veranlassen. Ich bitte Sie dennoch um die gebotene Zurückhaltung, nicht nur, was die mögliche Störung des Krankenhausbetriebes angeht, sondern auch, was Ihre Bitten um Akteneinsicht betrifft. Ich möchte Ihnen nichts abschlagen müssen. Sie wissen doch: die ärztliche Schweigepflicht!«
Judith Brunner wollte schon entgegnen, dass es angesichts eines vermissten, verstümmelten Leichnams und eines überzähligen Toten mit Schussverletzungen so etwas wie eine gebotene Zurückhaltung nicht geben konnte, überlegte es sich dann aber anders. Denn obwohl Dr. Heiner Frederich sie freundlich und in gewisser Weise entgegenkommend ansah, hatte seine einschränkende Bemerkung kompromisslos geklungen.
~ 13 ~
»Na endlich! Wo bliffst du denn, meen Deern!«, wurde Laura liebevoll, aber auch mit einem leichten Vorwurf empfangen, als sie gerade an Irmgard Rehses Tür klopfen wollte. Ihre Großtante hatte hinter der Gardine gelauert und war schnellstmöglich zur Tür geeilt.
Laura drückte die alte Frau herzlich und beruhigte sie: »Nun bin ich doch da.«
»Ich mach uns gleich Kaffee«, kündigte Tante Irmgard an und wischte sich hastig einige Tränen der Erleichterung weg. Warum wurde sie in letzter Zeit nur so schnell unruhig und machte sich gleich um alles Gedanken? »Was war denn los? Hatte dein Zug Verspätung?«
Laura war ihr in die winzige Küche gefolgt. »Ach wo! Walter hat mich pünktlich abgeholt, doch du wirst nicht glauben, was uns unterwegs passiert ist! Du bist die Erste, die es erfährt!«
Der Trick funktionierte und die Enttäuschung über Lauras verspätete Ankunft wich der Neugier. Tante Irmgard gab ihr eine Kuchenplatte voller goldgelber luftiger Stückchen in die Hand. »Hier. Kannst du schon in die Stube bringen. Ich habe dir einen Butterkuchen gebacken, so wie deine Oma den immer gemacht hat. Auf dem Blech – und dann frisch aus dem Ofen auf den Teller.«
Laura hatte den Duft natürlich schon wahrgenommen und bemerkte gerührt: »Wie lieb von dir. Es ist immer so schön, dich zu besuchen.« Das meinte sie aus tiefstem Herzen, und um der alten Frau eine Freude zu machen, fügte sie hinzu: »Und ich kann wie versprochen drei Wochen bleiben.« Ein glückliches Lächeln verscheuchte den sorgenvollen Zug aus Tante Irmgards Gesicht.
Genussvoll biss Laura in das erste Stück Kuchen.
Tante Irmgard goss den Kaffee in die eigens für den besonderen Anlass herausgesuchten Sammeltassen, die Laura schon aus ihrer Kindheit kannte. Geschwungener Goldrand, Blumenmuster, verschnörkelter Henkel; Tasse, Untertasse, Kuchenteller. Nahezu jeder Haushalt in Waldau verfügte über eine entsprechende Anzahl von Gedecken, denn Sammeltassen galten in der guten alten Zeit als passendes Geschenk für fast jede Gelegenheit: Taufen, Einschulungen, Konfirmationen, Hochzeiten. Und immer wussten die Besitzerinnen den Anlass noch genau und konnten bei den diversen Feierlichkeiten die Erinnerungen gemeinsam auffrischen.
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