Giftweizen
nehmen, »wohin müssen wir denn?«
»Dritte Etage, Ende linker Flur«, kam die präzise Ortsangabe.
»Na, dann lassen Sie uns gehen«, ermunterte Judith die junge Frau zum Loslaufen. Musste sie sie auch noch anstupsen?
Wieder errötend, ging ihre Begleitung voran und blickte wie hypnotisiert auf die Etagenanzeige des Fahrstuhls. Als die Türen sich öffneten, stieg Judith ein und nickte aufmunternd, damit der Knopf für die dritte Etage gedrückt wurde.
Oben angekommen, wurde sie von der Schwester in einen recht schmucklosen Raum geführt und erinnert: »Warten Sie bitte hier. Ich sage Bescheid.«
Dr. Frederichs Büro war nicht größer als die üblichen Vierbettzimmer auf den Stationen. Die Anordnung von Steckdosen, Heizkörpern und Beleuchtung vor weißlichen Wänden ließ den Schluss zu, dass es sich um ein umfunktioniertes Patientenzimmer handelte – ein Blick auf den gelbbraun gemusterten Linoleumfußboden brachte Judith dann Gewissheit. Angesichts dieser wenig repräsentativen Gegebenheiten hatte niemand den Versuch unternommen, den Raum anders als zweckmäßig einzurichten. Das nötige Mobiliar war vorhanden.
Judith Brunner ging zum Fenster und erfreute sich an der weiten Aussicht über die im Abendlicht liegende kleine Stadt.
»Gardelegen kann wirklich schön aussehen«, hörte sie eine angenehme Stimme von der Tür, »ich genieße diesen Blick öfter, gerade zu dieser Tageszeit.«
Vermutlich beherrschen Leute im Krankenhaus das lautlose Türöffnen perfekt, wohl aus Rücksicht auf die Patienten, dachte Judith, denn sie hatte absolut nichts gehört. »Stimmt«, wandte sie sich dem Eintretenden zu, der zwei kleine Gläser leicht sprudelndes Mineralwasser in einer Hand hielt und sie demonstrativ musterte.
Ihm gefiel offenbar, was er sah. »Hallo«, begrüßte er seine Besucherin salopp und stieß mit der Hüfte die Tür hinter sich zu. Heiner Frederich war ein Mann in den besten Jahren. Er sah außerordentlich nobel und gepflegt aus. Die aus konservativer Sicht etwas zu langen, dunklen Haare fielen locker in die Stirn und eine dezente Brille unterstrich die wachen Augen in einem ebenmäßigen Gesicht. Unter seinem nur mit einem Knopf geschlossenen Arztkittel trug er ein leuchtend hellblaues Hemd, wodurch sein Gesicht noch sonnengebräunter wirkte, dazu eine mit schmalen Rhomben gemusterte Seidenkrawatte. Dunkelgraue Hosen, ein passender Gürtel und geflochtene, leichte Lederschuhe vervollständigten die Erscheinung eines sich sicher für unwiderstehlich haltenden Beaus.
Judith vermutete, dass das mehrmalige Erröten von Lernschwester Ellen von einer unschuldigen Schwärmerei für diesen Mann herrühren könnte. »Ich muss Sie leider stören, weil …«, wollte sie erklären, doch Dr. Frederich unterbrach sie rasch: »Kein Problem, Frau Brunner. Sie erretten mich aus einer furchtbar öden Besprechung mit der Bauverwaltung über die normgerechte Befestigung von Fallrohren. Das muss nun meine Stellvertreterin erledigen«, freute er sich spitzbübisch. Er stellte die Gläser ab und reichte Judith Brunner freundlich die Hand. »Setzen Sie sich doch bitte.«
Sie nahmen an einem kleinen, nicht für Besprechungsrunden gedachten Tisch Platz, der nicht viel Fläche für Unterlagen oder anderes bot. Mit Judiths Mappe, ihrem Notizblock und den beiden Getränken wirkte er geradezu überladen.
»Dr. Renz hat Sie ja sicher über die Vorkommnisse in der Pathologie unterrichtet«, kam Judith Brunner gleich auf den Zweck ihres Besuches zu sprechen.
Nickend bestätigte Dr. Frederich diese Vermutung. »Wissen Sie inzwischen mehr? Kollege Renz hat angedeutet, dass der gefundene Mann schon länger verstorben war?«
»Na ja, länger? Er spekulierte über einen Zeitraum von einigen Tagen bis zu einer Woche. Leider konnten wir noch nicht ermitteln, wo sein Leichnam vorher gelagert wurde«, informierte Judith Brunner.
»Und wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nun, alles deutet darauf hin, dass die Vorfälle in der Zeit zwischen gestern Nachmittag vier Uhr und heute Morgen halb acht geschehen sind. Gab es da etwas Auffälliges in Ihrem Krankenhaus, besondere Vorkommnisse?«
Dr. Frederich dachte nach, doch dann schüttelte er leicht den Kopf: »Einen ziemlich langen Zeitraum haben Sie da abgesteckt. Hm. Besonderes war da nicht. Ich glaube, wir hatten gestern zwei, drei Notfälle, die mit dem Wagen von der Schnellen Medizinischen Hilfe eingeliefert wurden, aber wie viele mit einem privaten Pkw kamen? Da kann ich aber für Sie in der
Weitere Kostenlose Bücher