Giftweizen
Da ging der Gesprächsstoff nie aus.
Laura berichtete Tante Irmgard anschaulich von Ludwig Wenzels panisch-rasantem Trecker-Fahrstil – »Das ging gerade noch mal gut!« – und von dem Fund der Hände am Ferchel. »Da musste Walter erst mal einiges vor Ort erledigen, bis er mich hier abliefern konnte.«
»Das will ich gerne glauben!«, war Tante Irmgard sofort überzeugt und fragte wissbegierig: »Was meint er denn, was nun weiter wird? Das ist ja richtig gruselig. Huh!« Es klang wie »Wunderbar!«. Sie schien wegen Lauras Erlebnis, das für die kommenden Tage eine willkommene Abwechslung bei den Kaffeekränzchen der Dorffrauen versprach, ganz aus dem Häuschen zu sein.
»Oh, die Polizei sucht nun natürlich den Körper zu den Händen. Gott sei Dank war der Mann schon tot, als sie ihm abgetrennt wurden. Judith leitet wieder die Ermittlungen. Und Walter wird wohl allerhand Leute befragen müssen. Vielleicht findet er Zeugen, die ihm weiterhelfen können.«
Über den falschen Leichnam in der Pathologie erzählte Laura angesichts von Tante Irmgards wohligem Schauer vorerst lieber nichts. Außerdem fühlte sie sich geschafft. Die Erlebnisse des Tages wollten auch von ihr erst noch verdaut werden. »Ist da noch einen Schlückchen?«, hielt sie ihre Tasse hin, hoffend, dass der starke Kaffee ihr neue Kräfte verleihen würde.
»Du bist erschöpft, Mädel, kein Wunder. Die Reise, und dann das mit diesen Händen«, erahnte Tante Irmgard Lauras Befinden. »Willst du dich ein bisschen hinlegen?«
»Lieber nicht, sonst schlafe ich bloß ein. Und ich will doch noch auf ein paar Minuten hoch zum Gutshaus.« Laura hielt es seit Jahren so, dass sie gleich am Tag ihrer Ankunft in Waldau zuerst bei Tante Irmgard und dann bei Astrid Ahlsens vorbeischaute. Es war ihr wichtig, diese ihr nahen Menschen zu sehen und mit ihnen zu reden. Sie stand auf. »Mein Mitbringsel!«, fiel es Laura gerade noch rechtzeitig ein. Sie holte aus ihrer Umhängetasche ein in knisterndes Seidenpapier eingewickeltes weiches Päckchen und reichte es über den Tisch.
»Was für ein schöner Schal!«, freute sich Tante Irmgard und hielt das bunt gemusterte Schultertuch aus feinster Wolle ins Licht.
»Die Farben stehen dir gut!«, war Laura über ihre gelungene Wahl froh. »Den Schal kannst du dir umlegen, wenn es abends auf deiner Bank vorm Haus etwas kühler wird.«
Herzlich drückte Irmgard Rehse ihre Großnichte. »Nun mach aber los, Astrid wartet!«
Laura musste noch die kleinen Aufmerksamkeiten für ihre Freundin holen. Raschen Schrittes lief sie die wenigen Meter zu ihrem Haus. Niemand war da. Judith hatte mit Sicherheit noch alle Hände voll zu tun und Wilhelmina, die sonst immer ein sicheres Gespür für ihr Erscheinen bewies, ließ sich ebenfalls nicht blicken. Wahrscheinlich war schon hohe Jagdzeit für immer hungrige Dorfkatzen.
Im Handumdrehen entnahm Laura die Geschenke ihrem Gepäck. Für Ella hatte sie ein entzückendes Mäntelchen im Pepitamuster erstanden und natürlich ein Spielzeug gekauft – eine Plüschmaus, an der Wilhelmina auch ihre Freude gehabt hätte. Und Astrid bekam ein weiteres altes, schön geschliffenes Wasserglas geschenkt, diesmal aus zartem Kristall mit schwerem Boden. Laura stöberte nämlich gerne in den Berliner Gebrauchtwarenläden und wurde ab und zu fündig. Wie Laura wusste, legte Astrid keinen Wert auf sechs oder mehr gleiche Gläser bei Tisch – sie bevorzugte ihre Sammlung hübscher Einzelexemplare.
Kurz vor dem Gut hörte Laura schon von Weitem einige Kinder laut und aufgekratzt schreien.
»Tritt doch zu!«
»Aua!«
»Rein damit!«
Bald konnte sie den Grund für die Begeisterung sehen: Auf der großen Wiese im Gutspark trainierte Leon Ahlsens seine Dorfjugend. Fritzi Bauer und ein paar weitere Lausebengel übten sich im Fußball, und die kleine Ella krabbelte, von den Spielern geschickt umspielt, auf dem Rasen umher.
Leon stand in einem imaginären Tor, dessen Pfosten von zwei Trainingsjacken markiert wurden.
Zuschauer hatten sich nur wenige eingefunden. Laura erkannte Fritzis Schwester Dany und einige andere Mädchen in ihrem Alter, die aussahen, als würden sie gern mitspielen, es aber nicht dürfen, Astrid und eine ihren gestürzten Sohn tröstende Spielermama. Alle Zuschauerinnen feuerten offenbar immer genau den Jungen an, der gerade am Ball war. »Renne! Na los!« Ihre jubelnden Rufe galten jeder Balleroberung. Den Sportlern jedenfalls machte es riesigen Spaß, angefeuert zu werden, das konnte Laura beim
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