Giftweizen
Ahlsens Biografie ... Doch Hella Singer wartete auf sie. Judith wusste, dass Lisa Lenz den Besuch der Hauptkommissarin telefonisch angekündigt hatte, ohne die genaueren Hintergründe mitzuteilen. Von Waldau nach Breitenfeld waren es nur wenige Fahrminuten und bei dem herrlichen Wetter konnte sie die Fahrt über Schwiesau, vorbei an Feldern und Weiden, sogar ein wenig zur Entspannung nutzen. Walter hatte ihr den Weg beschrieben und so fand Judith ohne Mühe die gesuchte Adresse. Sie parkte ihr Auto vor dem gegenüberliegenden Haus und stieg aus.
Hella Singer stand, ein paar frisch geschnittene Zweige in der Hand, in der Tür ihres hübschen Hauses und sah Judith Brunner entgegen. Das Fachwerk des Großbauernhauses war wunderschön erhalten. Die dunkelbraun gebeizten Fensterläden, deren Farbton auch die Haustür aufwies, hielten die Fassade malerisch zusammen. Links und rechts von der Tür gab es jeweils drei Fenster mit weiß gestrichenen Holzrahmen und auf den Fensterbänken standen Blumenkästen mit Stiefmütterchen.
Hella Singer trug ein fast bodenlanges, schwarzes Jerseykleid, das ihre schlanke Gestalt elegant umschloss. Um die Schultern hatte sie sich einen türkisgrünen, zart gehäkelten, breiten Schal gelegt. Ihre grauen, fast weißen Haare hielt im Nacken ein schwarzes Samtband zu einem Zopf zusammen. Die feinen, doch sehr angespannten Gesichtszüge zeigten, dass sie vom Tod ihres Mannes sehr mitgenommen war. Diese Frau litt entsetzlich, das sah Judith sofort.
»Frau Singer, ich bin Hauptkommissarin Brunner. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid ausdrücken. Und ich bedaure sehr, dass ich Sie in dieser Situation störe, doch wir müssen miteinander reden«, betonte Judith Brunner das Unabdingbare des Gesprächs.
Die Frauen gaben sich schweigend die Hände und Hella Singer ging voraus ins Haus. Judith Brunner bemerkte, dass sie barfuß lief. Spuren von Gartenerde hafteten an den Füßen, und eigentlich war es für bloße Füße noch zu kalt, trotz der gut meinenden Frühlingssonne. Allerdings hatte Hella Singer die makellosesten Füße, die Judith Brunner je bei einer Frau dieses Alters gesehen hatte.
In der guten Stube bot sie der Polizistin einen Platz auf einem mit dunkelgrünem Samt bezogenen Lehnstuhl an, der mit anderen um einen runden Tisch stand, und setzte sich dazu. Der alte Regulator an der Wand, der eigentlich laut ticken sollte, war – wie in Trauerhäusern üblich – angehalten worden.
Einen Moment war kein Laut zu hören, doch dann klapperte leise Geschirr.
»Gleich gibt es eine Tasse Kaffee«, kündigte Hella Singer freundlich an, »oder möchten Sie etwas anderes? Eine Nachbarin hilft mir mit den Beileidsbesuchern.«
»Kaffee wäre schön«, nahm Judith Brunner das Angebot an.
Dann war es wieder still.
Hella Singer saß reglos und wie fremd in ihrem Wohnzimmer. Ihr Blick lief ins Leere.
Der Raum war gemütlich und zeitlos eingerichtet. Zwischen einem hellgrünen Plüschsofa und einem passenden Ohrensessel stand ein hübscher Nähtisch. Daneben diente eine geschwungene, breite Kommode als Ablage für Korrespondenz, Zeitungen und einen kleinen Korb mit Strickwolle. Ein alter, gewebter Teppich verband die Möbel.
Judith ließ ihre Blicke über die halbhohen Bücherregale und die vielen gerahmten Bilder an den Wänden darüber schweifen.
Sie schwiegen weiter. Judith sah keinen Grund, Hella Singer zu drängen. Die Rolle der Gastgeberin war in dieser Situation wahrscheinlich ohnehin sehr belastend. Vielleicht wäre sie in ihrer Trauer auch lieber allein und ungestört, ohne die ständigen Besuche der Nachbarn oder anderer, weitläufigerer Bekannter. Doch auch diese Menschen hatten ihren Mann gekannt, ihn möglicherweise sogar gemocht, und es war eben Brauch, der Witwe persönlich zu kondolieren und ihr Hilfe anzubieten. Den Erwartungen der Mitmenschen in solchen Momenten zu entsprechen, erforderte von den Hinterbliebenen oftmals erhebliche Anstrengungen. Dass sich die Frauen im Dorf dabei gegenseitig halfen und Beistand gaben, fand Judith Brunner wunderbar beruhigend.
Eine korpulente Frau trat zurückhaltend mit einem gefüllten Tablett an den Tisch und grüßte Judith Brunner wortlos mit einem Nicken. Sie verkörperte anschaulich den völlig aus der Mode gekommenen Begriff der Schicklichkeit. Die Frau trug über einem einfachen schwarzen Wollkleid eine in Grautönen karierte Halbschürze und war wesentlich jünger als Hella Singer. Sie servierte ruhig den Kaffee, stellte ein Kännchen
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