Giftweizen
So schlimm ist es gar nicht. Ab und zu scheint hier jemand ein wenig aufgeräumt zu haben. Man findet sich eigentlich gut zurecht. Mit dem groben Sichten bin ich fast fertig; das war schon ein Großteil der Arbeit. Dann will ich mich Akte für Akte hinsichtlich möglicher Lemke-Fälle durcharbeiten.«
Das hörte sich gut an, aber Judith drängte der aktuelle Mordfall und deshalb musste sie für Lauras Nachforschungen die Prioritäten ändern. »Schön. Hast du vielleicht etwas zu einem gewissen Otto Holl oder seiner Bande in den Händen gehabt?«
»Über den Holl? Na sicher. Der hatte zu seiner Zeit ja einen fast schon legendären Ruf.« Laura sagte das, als gehörte entsprechendes Wissen zu den geläufigsten Gesprächsthemen.
Judith war überrascht: »Wie bitte? Du kennst den?«
»Den Holl? Nein. Ich selber kenne den nicht. Doch meine Großeltern und ihre Nachbarn haben immer wieder mal von dem erzählt. Ausschließlich üble Gangstergeschichten. Die Familie wohnte immerhin in Waldau, der alte Förster war sein Vater. Der Sohn galt als extrem gefährlicher Krimineller. Dann ist er irgendwann mit seiner Schwester aus der Gegend verschwunden. Seine Mutter soll sich später umgebracht haben. Tante Irmgard hat bei Verwandten in Salzwedel gehört, dass der Otto Holl woanders Leute erschlagen hatte. Dafür hat er dann lebenslänglich bekommen. Das war vielleicht eine Sensation! Meine Großmutter hat sie, ach, vor wenigstens zwanzig Jahren, Großvater mit einiger Genugtuung beim Abendbrot verkündet. Wieso fragst du?«
»Ach Laura!«, Judith konnte es kaum glauben. »Du hast eben mehr über Holl erzählt, als wir in den letzten Stunden mit dem ganzen Polizeiapparat herausbekommen haben. Wir wussten kaum etwas über diesen Verbrecher. Außerdem hast du damit die Geschichte, die uns Botho Ahlsens erzählte, noch glaubhafter gemacht. Wie würde ich wohl ohne dich dastehen!« Aufgeräumt erklärte sie die Hintergründe ihrer gehobenen Stimmung.
Laura freute sich und forderte Judith auf: »Komm mit! Die Akten der fünfziger Jahre liegen ganz vorn. Allerdings enthalten sie zum Teil nur schlecht lesbare Durchschläge oder Blaupausen. Der Fachbegriff für eine solche Ersatzakte ist Retent. Die Ermittlungsunterlagen selbst gingen damals im Original wahrscheinlich an die Staatsanwaltschaft ...«
»Das läuft noch immer so«, warf Judith ein.
» ... aber immerhin gibt es hier die Duplikate der Fotografien, Teile des Schriftverkehrs und viele Berichte zu den Spuren – da findet sich schon allerhand Nützliches für dich. Das Nachfragen bei der Staatsanwaltschaft nach deren Unterlagen kann sich trotzdem immer noch lohnen. Die Akten zu Kapitalverbrechen oder zur Bandenkriminalität werden dort meist mehrere Jahrzehnte aufgehoben und landen später größtenteils in einem Archiv, wo sie auf Dauer verwahrt werden.«
Laura zeigte Judith nun ein Regal mit vier breiten Fächern voller hellolivfarbener Hefter. »Das sind die relevanten Akten – aus jedem Jahr ein paar Stapel. Die dickeren«, sie zog eine prall gefüllte Akte heraus, »könnten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu einem Hollschen Delikt geführt worden sein.«
Judith blätterte interessiert. Tatsächlich. Ein Überfall war angezeigt worden. 1954. Der Fahrer eines Mopeds war abends vor der Dorfkneipe niedergeschlagen worden und sein Fahrzeug wurde geklaut. Damals hatte man eine Menge Zeugen befragt – die Kneipe war voller Männer gewesen. Sogar ein scharfes Schwarz-Weiß-Foto vom Moped und seinem stolzen Besitzer war da. Judith blätterte zum Aktenvorblatt zurück. Richtig. Nach Abschluss der Ermittlungen – schon eine Woche nach dem Überfall – war jemand aus Holls Bande festgenommen und der Vorgang an die Staatsanwaltschaft abgegeben worden.
Judith sah auf ihre Uhr. Mit so einer schnellen Informationsbeschaffung zu Otto Holls Biografie hatte sie nicht gerechnet und nun stand ihr unerwartet etwas Zeit zur Verfügung.
Irgendwie war ihr die Sache mit den Diebstählen auf dem Gardelegener Friedhof nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Auch diese vermeintlichen Bagatellen musste die Polizei ernst nehmen, denn die Plünderungen der Grabanlagen waren nicht nur ärgerlich, sondern für die Hinterbliebenen schmerzlich. Lisa hatte völlig recht mit ihrer Empörung.
Hatte sie nicht sogar versprochen, sich persönlich um die Probleme zu kümmern? Zudem könnte sie dort einiges über die Abläufe auf einem Friedhof erfahren, was womöglich bei der Auffindung von Otto Holls Grab helfen
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