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Giftweizen

Giftweizen

Titel: Giftweizen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Schroll
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Erst der Wenzel und nun diese Walküre!
Er riet den beiden Einkäuferinnen, nach Hause zu gehen, da sei ganz sicher mehr los, und lief mit Hedwig Bieske das kleine Stück Weg bis zu seinem Büro zurück. Dabei schob er hilfsbereit ihr laut klapperndes Fahrrad.
Die Haustür war wie immer unverschlossen, damit Wartende sich auf den Stuhl im Flur setzen oder ihm eine Nachricht hinterlassen konnten. Walter Dreyer öffnete sein Büro und bot Hedwig Bieske an, sich zu setzen. »Möchten Sie vielleicht ablegen?«
»Geht nicht. Wir müssen sofort wieder los!«
»Ach. Wohin denn? Wollen Sie nicht doch einen Moment Platz nehmen, schließlich sind Sie gerade gestürzt und ...«
Brüsk wurde er unterbrochen: »Wir haben eine Leiche gefunden!«
Walter Dreyer glaubte ihr sofort. Er kannte sie lange genug. Diese robuste Frau war nicht der hysterische Typ. »Eine Leiche? Wo denn?«, fragte er nach.
»Im Wald. Am Weg hinten bei den Elf Quellen.«
Dort? Das war nicht weit von der Fundstelle der Hände! Hatten sie endlich Eduard Singer gefunden? »Konnten Sie Genaueres erkennen?«, erkundigte Dreyer sich hoffnungsvoll.
»Ich hab gar nicht hingesehen. Auch keiner von den anderen hatte den Mut, dicht ranzugehen. Entdeckt hat sie der Jürgen Wichmann. Ist ganz grün und blass geworden, der Gute. Ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber als Tenor noch ganz brauchbar.«
»Aha. Und wer sind die anderen?«, wollte Dreyer noch wissen, lief aber schon herum und suchte sein Zeug zusammen – Schreibzeug, Fotoapparat, Absperrband, Folienbeutel.
»Mein Vorstand vom Chor, die Stimmführer«, erfuhr er, und Hedwig Bieske hörte sich an, als seien die Chormitglieder ihr Eigentum.
»Wie viele sind das denn?«
»Fünf. Mit mir. Wir waren auf unserem Radausflug, den machen wir jedes Frühjahr. Und anschließend gibt’s bei mir Kaffee und Kuchen.«
Das klang in Walters Ohren wenig verlockend. »Um noch mal auf die Leiche zurückzukommen, Frau Bieske: Ist jemandem von Ihren Chorfreunden etwas an ihr aufgefallen?«
»Nun, sie ist wohl, äh, nicht mehr ganz frisch; sogar schon ein wenig auseinandergefallen. Zumindest nach Wichmanns Beschreibung. Sagte ich das noch nicht?«
Walter Dreyer griff zum Telefon und rief in Gardelegen an.

    ~ 35 ~
     
    Auf dem Friedhof am nordöstlichen Rand der Stadt Gardelegen wurden erst seit dem 19. Jahrhundert Menschen bestattet. Trotzdem befanden sich hier schon die Grabstätten mehrerer Generationen.
Bei einem Rundgang konnte Judith Brunner sich einen Eindruck davon machen, wie vielfältig die Angehörigen ihrer Verstorbenen gedachten. Kreuze aus Stein oder Eisen, stehende oder liegende Grabsteine kündeten mit ihren Inschriften von der Vergänglichkeit des Lebens. In so manchen Fällen war es bereits im Kleinkindesalter wieder erloschen. Judith hoffte, dass die Kinder nicht Opfer von Vernachlässigung oder Misshandlung geworden waren.
Neben der großen Friedhofs-Kapelle waren die Gräber der Gefallenen des Ersten Weltkrieges nicht zu übersehen. Ein Stein wurde von einer Pickelhaube »geziert«, die meisten anderen Gräber waren mit schlichteren Kreuzen oder Steinen geschmückt. Judith fragte sich, warum man bei vielen Soldaten zwar den Todestag vermerkt, aber auf die Angabe des Geburtsdatums verzichtet hatte. Am auffälligsten war der massive Granitstein für Otto Reutter Jun., der 1916 vor Verdun sein Leben lassen musste. Unweit davon hatte die Gemeinde für dessen 1931 verstorbenen Vater, den berühmten Sohn der Stadt und beliebten Volkskünstler Otto Reutter, ein würdiges Ehrengrab errichtet, das ihn für immer in das symbolische Rund seiner bekanntesten Wirkungsstätte, den Berliner Wintergarten, stellte. Judith kam sofort sein Lied vom Überzieher in den Sinn. Viel mehr hatte sie aber nicht in Erinnerung und spazierte weiter.
In den fünfziger und sechziger Jahren waren zahlreiche relativ junge Leute bestattet worden, möglicherweise waren sie an Krankheiten gestorben, die später hätten gut behandelt werden können. Andererseits empfand Judith es als tröstlich, dass die meisten der hier Begrabenen ein hohes Alter erreicht und über viele Jahrzehnte, oft an der Seite von Ehepartnern einen Großteil des Jahrhunderts durchlebt hatten.
Auf einer Bank zwischen den Urnenfeldern saßen unter einem knorrigen Wacholder zwei betagte Weiblein und plauderten nach getaner Grabpflege einträchtig miteinander. Neben ihnen stand eine Gießkanne am Boden und eine Harke lehnte am Stamm des Baumes. Die wohltuende Stille in der

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