Giftweizen
Anlage wurde durch das Tschilpen einer Spatzenfamilie nicht gestört.
Nichts deutete darauf hin, dass heute eine Trauerfeier oder eine Bestattung stattfinden würde. Judith Brunner ging, an den Kriegsgräbern vorbei, zum Gebäude der Friedhofsverwaltung in der Nähe des Eingangs zurück.
Sie war telefonisch angekündigt und so wurde die Tür zum »Friedhofs-Bureau« vorsichtig geöffnet, kaum dass Judith Brunner Gelegenheit fand, das gut erhaltene alte Emailleschild zu bewundern. Ob die auf dem Schild genannten Öffnungszeiten immer noch galten? Zumindest für heute würde das bedeuten, dass eigentlich schon geschlossen war.
»Guten Tag. Kommen Sie von der Polizei?«, waren die Worte, die ein schüchternes Mädchen sich traute, leise zur Begrüßung zu äußern.
Lisa Lenz hatte Judith Brunner den Namen des Friedhofsverwalters genannt. Werner Uhlig. Das war er nicht. Das Kind konnte höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. »Ja, ich bin von der Polizei. Darf ich hereinkommen?«
Das Mädchen trat zu Seite und erklärte: »Mein Papa kommt gleich wieder. Er muss nur was an einem Wasserhahn reparieren.« Sie deutete auf einen Stuhl, der vor einem vollgekramten Schreibtisch stand. »Sie sollen sich so lange hinsetzen.«
»Danke.« Judith Brunner nahm Platz und hoffte, dass sie nicht zu lange würde warten müssen. »Hast du denn keine Schule heute?«, fragte sie das Kind, um ein Gespräch anzufangen. Allerdings hatte sie damit wohl ein ungeeignetes Thema angeschnitten, denn nachdem eine Freistunde als knappe Erklärung herhalten musste, gab das Mädchen bekannt, ihren Vater holen zu gehen, und verschwand eilig.
Judith sah sich um. Das »Bureau« war nur ein paar Quadratmeter groß und die alten, dunklen Holzmöbel ließen kaum Platz zum Bewegen. Ein stabil wirkendes Regal fasste mehrere Dutzend verbogene Ordner, deren Inhalte sie zu sprengen drohten. Ein Karteischrank, der Schreibtisch und drei Stühle ergänzten die Ausstattung. Außerdem diente eine ausrangierte Spiegelkonsole eines völlig deplatziert wirkenden Schlafzimmermobiliars als Miniküche; eine elektrische Kochplatte, zwei Emailletöpfchen und einige Geschirrteile spiegelten sich in dem blind gewordenen dreiteiligen Aufsatz.
Gerade als Judith aufstehen und sich die Kartei näher ansehen wollte, betrat ein Mann schimpfend den Raum: »Jedes Jahr dasselbe. Kaum ist der Frost aus dem Boden, gibt es Probleme mit der Wasserleitung. Irgendwas ist immer undicht ... Und dann noch die Klauereien ... Ist ja fast zu schön, dass sich endlich mal jemand herbemüht.«
Eine Begrüßung hielt er offenbar für überflüssig.
Uhlig suchte eine Ablagemöglichkeit für sein Werkzeug. Er schob sich durch die Enge an Judiths Stuhl vorbei. Ein beeindruckendes Stück Rohr landete krachend auf dem Karteischrank und der Eimer mit diversen Kleinteilen wurde scheppernd neben dem kalten Kohleofen abgestellt. Nachdem er genug gepoltert und damit seinen Ärger verdeutlicht hatte, setzte Uhlig sich friedlich hinter seinen Schreibtisch.
Judith konnte nun feststellen, dass er ein sehr ansehnlicher Mann war, um die vierzig, der seine groben Arbeitsklamotten so salopp trug, dass er verwegen und gleichzeitig zuverlässig wirkte. So sahen Friedhofswärter aus? Alle Achtung! Seine grünen Augen taxierten sie – aber nicht auf unangenehme Weise.
»Sie sind also Judith Brunner. Eine Hauptkommissarin. Hm? Das ist doch schon was ganz schön Hohes, stimmt’s? Und Sie schickt man wegen meiner kleinen Diebe? Erstaunlich!«
Er schien versöhnt, lächelte sogar.
Judith Brunner gönnte ihm seinen Sarkasmus. Sie konnte seinen Groll im Grunde genommen sogar verstehen und beschloss, ihm sein Benehmen nachzusehen. Doch vorerst erwähnte sie wohl besser nicht den wahren Anlass ihres Besuchs. Ein Friedhofsverwalter in Erzähllaune war sicher hilfreicher als ein vergnatzter Mann. Deswegen gab sie der Ehrlichkeit halber zu: »Es tut mir leid, dass wir bisher keine Zeit gefunden haben, uns um die Diebstähle zu kümmern. Doch wir nehmen Ihr Problem ernst. Es wäre schön, wenn Sie mir etwas konkreter davon berichten könnten.«
Werner Uhlig sah sie an und überlegte. Dann begann er, fast, als hätte er das alles schon zigmal geschildert: »In letzter Zeit höre ich immer öfter Beschwerden von den Besuchern, dass von den Gräbern Schnittblumen, Pflanzen, Schalen und sogar Koniferen gestohlen werden. So eine Grabbepflanzung oder auch der Grabschmuck sind erstens nicht ganz billig, und außerdem verletzt es
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