Giftweizen
müssen Sie sich wirklich keine Gedanken machen«, wandte Lisa ein und klang schon wieder etwas selbstbewusster. »Er denkt sicher nur Gutes von Ihnen, das können Sie mir glauben. Was anderes würde er niemals von mir zu hören bekommen.«
Eine Loyalitätserklärung. Meine Güte! Wieso führte sie mit Lisa so ein Gespräch?
»Ich kann mit niemandem darüber reden«, sagte Lisa und dann tat die Unglückliche es doch: »Wir leben in einer Kleinstadt. Werner ist fast zwanzig Jahre älter, Witwer, und hat eine Tochter. Ich bin bei der Polizei und er ist vorbestraft. Was denken Sie, wie sich die Leute das Maul zerreißen würden.«
»Was ist passiert?« Jetzt wollte Judith alles über die Vorstrafe erfahren.
Lisa verstand. »Eine Sache während seines Studiums. Jura. Werner wurde zusammen mit zwei weiteren Kommilitonen wenige Wochen vor dem Abschluss rausgeschmissen. Sie hatten die mangelhafte Ausbildung von einigen Dozenten öffentlich in einer Versammlung kritisiert und gefordert, die Herren aus der Lehre zu nehmen. Damit waren die drei wohl den falschen Leuten auf die Füße getreten. Prompt wurden sie relegiert. Am Abend ihres Rausschmisses haben sie in einer Kneipe ihren Frust ertränken wollen. Es wurde laut, sie kamen in Streit und dann haben sie jemanden, der sich einmischte, verprügelt. Es stellte sich später heraus, dass er von der Polizei war ... Sie saßen fast drei Jahre ab ... Danach hat Werner hier eine Wohnung in der Nähe vom Wall und die Stelle auf dem Friedhof zugewiesen bekommen. Die Arbeit dort gefällt ihm, sehr sogar; er macht das ja nun auch schon allerhand Jahre. Er sagt oft, dort habe er eine angenehm ruhige Gesellschaft.« Lisa erzählte weiter von Uhligs Ehe, dem Kind, dem Unfalltod seiner Frau und wie sie sich vor zwei Jahren kennengelernt hatten, als Uhligs Tochter mit dem Fahrrad gestürzt war und Lisa Erste Hilfe geleistet und sie nach Hause gebracht hatte. Uhlig war überaus dankbar gewesen und hatte Lisa kurzweg eingeladen, gemeinsam mit ihm und dem Mädchen zur nächsten Nachmittagsvorstellung ins Theater der Altmark nach Stendal zu fahren. So hatte alles angefangen und schnell war eine ernsthafte Beziehung daraus geworden. Als Lisa mit ihrem Bericht an dieser Stelle endete, hatten ihre Augen wieder Glanz.
»Lisa, Sie sind stark. Das weiß ich. Und den nötigen Mut zur Liebe haben Sie auch. Das sind optimale Voraussetzungen, die schwierigen Umstände zu meistern. Und dem Herrn Uhlig ist hoffentlich klar, welches Glück er hat, von Ihnen geliebt zu werden.«
Auf Lisas Gesicht zeigte sich ein erstes, noch zaghaftes Lächeln.
Einigermaßen beruhigt berichtete Judith Brunner ihrer Mitarbeiterin dann vom dem, was sie mit dem Besuch auf dem Friedhof in Erfahrung gebracht hatte, und vom Leichenfund bei den Elf Quellen.
»Na, das ist ja abartig! Erst haben wir Hände und die Leiche dazu fehlt; heute finden wir eine Leiche ohne Hände und trotzdem passt nichts zusammen? Gibt’s denn das?!«, staunte Lisa.
»Wenn die Kollegen vom Fundort zurück sind, tauschen wir uns kurz aus und beschließen, wie wir weitermachen«, kündigte Judith Brunner an. »Um eines würde ich Sie aber jetzt schon bitten: Befragen Sie gleich morgen früh diesen Vogelfreund auf dem Friedhof. Sie können sich ja nochmals genau erkundigen, wann mit seinem Erscheinen zu rechnen ist«, sagte sie und zwinkerte ihr zu.
Nachdem Lisa Lenz das Büro verlassen hatte, atmete Judith Brunner tief durch. Hätte sie wissen können, wie kompliziert Lisas privates Verhältnis war? Und dabei dachte sie, Walter und sie hätten es schwer. Sie nahm sich vor, Lisa zu unterstützen, wann immer ihr dies möglich war. Judith kam ein amüsanter Gedanke: Lisa liebte einen Friedhofswärter, kannte sich, mehr als allgemein üblich, mit Giften aus, ihr Bruder arbeitete zeitweise in einer Geisterbahn als Gespenst, und als sie anfingen, auf den Friedhöfen nach fehlenden Leichen zu suchen, war sie von der Idee, an ein geplündertes Grab zu denken, ziemlich angetan gewesen. Lisa besaß offenbar eine größere Affinität zu schaurigen Umständen.
Die Kommissarin stand auf und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Ein Stapel alter Akten, der sich neu angefunden hatte, fiel ihr sofort ins Auge. Oben aufgelegt fand sie einen Brief von Laura:
»Liebe Judith, hier sind die gesuchten Akten. Otto Holl ist Jahrgang 1923, geboren in Kalbe. Vater Förster, Mutter Hausfrau. Eine jüngere Schwester, Jenny. Diese Eckdaten haben alle Bearbeiter stets auf dem
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