Giftweizen
Deckblatt der Akten erfasst.
In einer der frühen Akten von 1951 (Nr. 3571/51) fand sich die Kopie einer Aussage von Otto Holls Vorarbeiter, der seinen Werdegang offensichtlich etwas genauer kannte. Nach einer Prügelei mit Zechkumpanen hatte Holl nicht selbst aussagen können, da er einen gebrochenen Kiefer hatte. Und da hat die Polizei versucht, über seine Arbeitsstelle an weitere Informationen zu kommen. Also: Nach dem Besuch der Schule in Schwiesau hielt Holl nichts von einer Lehre oder Ausbildung und wollte lieber schnell Geld verdienen. Er hat sich als Waldarbeiter dem Trupp dieses Vorarbeiters angeschlossen. Dann Krieg; Einzug zur Wehrmacht. Danach nahm sich Holl eine Wohnung in Hasselbusch, das ist gleich hinter Klötze. So weit die Aussage seines Vorarbeiters. Bei dieser Adresse bleibt es in allen Akten.
Gleich nach dem Krieg begann er seine kriminelle Karriere als Bandenchef. Die Anzeigen lauten auf Körperverletzung, Nötigung, Erpressung, Diebstahl. Allerdings ist ihm wohl selten etwas nachzuweisen gewesen, denn meistens haben irgendwelche Kumpane die Taten auf sich genommen und für ihn die Strafen abgesessen. Ich hänge eine entsprechende Namensliste an diesen Brief an. Deren Akten liegen übrigens auch hier im Keller. Wenn nötig, suche ich sie gern noch heraus.
Zwei Mal war Holl im Gefängnis: 1953 fast ein Jahr wegen sexueller Nötigung (in Stendal), 1956 acht Monate wegen Körperverletzung. Damit enden dann auch die hiesigen Aufzeichnungen. Zu der Vergewaltigung seiner Schwester Jenny findet sich nichts. Auch absolut nichts zu den Schüssen auf ihn. Tut mir leid! Niemand hat das seinerzeit angezeigt.
Ich frage Tante Irmgard noch mal, ob sie sich erinnert, von wem genau meine Großmutter damals die Information über Holls lebenslängliche Strafe hatte. Vielleicht fällt ihr ja noch mehr ein.
Viele Grüße, Laura
PS: Ein › amtlicher ‹ Recherchebericht folgt natürlich noch. Das erledige ich nachher auf Walters Schreibmaschine.«
Judith Brunner sah sich die Namensliste an. Keiner sagte ihr etwas. Laura hatte zudem die damaligen Adressen, Zeiträume und die Delikte erfasst. Es waren zwölf Namen, die zusammen mit Holl in den Akten auftauchten. Daneben standen die Aktenzeichen. Ein paar Namen waren nur einmal erwähnt, die standen am Ende der Liste. Aber zwei hatten signifikant mehr Einträge. Laura hatte sie deshalb ganz oben aufgeführt und extra unterstrichen: Arnold Pfeiffer und Heino Wuttke. Dazu hatte sie vermerkt: » Pfeiffer war der Vorarbeiter vom Forst, der Holl schon aus Vorkriegszeiten kannte und der dann für ihn ausgesagt hatte. Wie ich in den Akten gelesen habe, wurden diese beiden von den damaligen Ermittlern der Polizei als Holls Bandenstellvertreter angesehen. Möglich, dass einer von denen damals auch Jenny Holl mit vergewaltigt hat. «
Und möglich, dass einer von ihnen der Tote ist, den dieser Chorknabe entdeckt hat, setzte Judith in Gedanken hinzu. Denn sie vermutete stark, dass der heutige Leichenfund im Zusammenhang mit den anderen Toten stand. Er könnte am selben Tag wie Singer gestorben sein und eine Beziehung der drei Toten zueinander schien mittlerweile mehr als wahrscheinlich. Ausgezeichnet. Die Namen waren ein guter Ansatzpunkt!
Dann legte sie den Kurzbericht zur Seite und dachte weiter. Verurteilungen zu einer lebenslangen Haftstrafe, also zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis, waren äußerst selten und erfolgten nur in wenigen Ausnahmefällen. Sie ging zu ihrer kleinen Handbibliothek und schlug kurz im Strafrecht nach: Lebenslang gab es etwa bei Landesverrat, bei Kindsmorden oder bei Mord mit besonderer Brutalität. Damit war eine gefährliche, unmenschliche Tatausführung gemeint, die auch im Hinblick auf die Täterpersönlichkeit des Angeklagten keine die Schuld mindernden Umstände erkennen ließ. Lebenslänglich, hm. Was hatte Otto Holl alles verbrochen? Wichen seine Taten von den sonst vorkommenden Mordfällen in erheblichem Maße ab? Hatte er mehrere Menschen ermordet? Gab es besonders verwerfliche Umstände bei der Tatausführung?
Judith überlegte weiter. Vorausgesetzt, Holl war bei seinen Straftaten einigermaßen ortstreu geblieben, konnte in seinem Fall nur das Bezirksgericht in Magdeburg diese hohe Strafe ausgesprochen haben. Da konnte sie ihre Beziehungen spielen lassen: Während des fünften Semesters ihres Jurastudiums hatte Judith einige Wochen bei der Staatsanwaltschaft in Magdeburg als Praktikantin gearbeitet. Sie erinnerte sich gern an ihre
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