Giftweizen
ihrer Konversation erreicht, die seit mehreren Minuten drohte, Dreyers Toleranz gegenüber Künstlern aller Art überzustrapazieren.
Natürlich konnte es die Chorleiterin nicht ertragen, dass der Tenor mit seinem Wasserlassen die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Ohne sie hätte es den Ausflug immerhin nicht gegeben.
»Wieso denn lächerlich? Dir kann das jedenfalls nicht gelingen! Und ohne Zweifel trage ich damit zur Aufklärung eines Verbrechens bei!«, gab der Mann selbstbewusst Kontra und bohrte dabei theatralisch einen Finger in die Luft.
»Pah!«, plusterte sich Hedwig Bieske auf und wollte gerade zu einer neuen Gifterei ansetzen, als Walter Dreyer endgültig genug von der Vorstellung hatte. Dieser Posse wollte er nicht weiter eine Bühne bieten! Es gab Wichtigeres. »Schluss damit! Sofort!«, forderte er energisch. »Meine Güte! Nun reicht’s aber mit Ihnen! Verlassen Sie bitte augenblicklich mein Büro!«
Für einen winzigen Moment trat Ruhe ein, doch die Verblüffung währte nicht lange. Die fünf sahen sich in kurzem Einvernehmen an, zuckten mit den Achseln oder blickten einfach milde lächelnd und machten weiter. Dreyers Rausschmiss wurde ungeniert überhört!
»Er hat aber recht!«, setzte der ältliche Sopran das emotionsgeladene Gespräch nahtlos fort, als wäre Dreyer nicht im Raum. »Bis auf die toten Frischlinge in unserer Kirche hatten wir so etwas noch nicht. Das ist die größte Sensation in unserem Chorleben!«
»Ach, halte du doch die Klappe!«, wurde die Frau von Hedwig Bieske aufgefordert, und Walter Dreyer wünschte inständig, alle würden sich dieser deutlichen Ansage fügen. Doch es sollte nicht sein.
Der solide Bass mischte sich wieder ein: »Wir sind hier nicht auf der Probe und du kannst nicht bestimmen, wer wann den Mund aufmachen soll.«
Sofort maßregelte ihn die Chorleiterin: »Sorge du lieber dafür, dass dein Notensatz wieder komplett ist. Wer weiß, bei welchem losen Flittchen du den wieder vergessen hast.«
Wie sollte es Walter nur gelingen, die fünf Sangesfreunde halbwegs zivilisiert aus seinem Büro zu befördern? Mittlerweile durchdachte er die verführerische Idee, zur Durchsetzung seines Rausschmisses seine Dienstwaffe zu benutzen und filmreif damit herumzufuchteln, doch er war sich nicht sicher, in welchem Schubfach seines Schreibtisches die Pistole lag. Oder sollte er sie sogar einmal vorschriftsmäßig weggeschlossen haben? Auf jeden Fall entfiele durch sein Gesuche das Überraschungsmoment. Walter sann auf andere Waffen. Sollte er beginnen, mit Hustenbonbons zu werfen? Da wusste er genau, in welchem Schubfach die seit Monaten lagerten. Oder, besser noch, er benutzte das dicke und völlig überflüssige »Handbuch für das Führen des polizeilichen Dienstfahrzeuges im Einsatz« als Wurfgeschoss!
In diesem Moment lugte Laura in das Büro und bestaunte die Szene. Ihr Anklopfen war durch den lauten Disput nicht zu hören gewesen. Sie sah Walter fragend an, erkannte seine Nöte und deutete demonstrativ auf ihre Uhr, während sie rief: »Wir haben einen dringenden Termin!«
Er war gerettet! »Richtig. Wie konnte ich das vergessen!« Walter Dreyer stand gebieterisch auf. »Die Herrschaften haben soeben ihre Unterschriften unter die Protokolle gesetzt und wollten gerade aufbrechen.«
Seine fünf Zeugen benötigten einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie gemeint waren, fügten sich dann aber murrend der veränderten Situation. Laura Perchs beharrliches Stehenbleiben neben der weit geöffneten Tür leistete dazu sicher einen überzeugenden Beitrag.
Walter Dreyer nahm Hedwig Bieske den Kugelschreiber aus der Hand – und der Anfang war gemacht. Wenig später konnte er die Haustür hinter den Plagegeistern schließen, drehte zur Sicherheit den Schlüssel um und hörte deutlich, wie der Sopran anfing, ein bekleckertes Hemd des Tenors beim letzten Konzert ins Feld zu führen. Was für eine Truppe! Wie mochten da erst die Chorproben ablaufen?
Er kehrte zu Laura zurück, die ihn aus einem Sessel schelmisch beäugte. »Das wurde wohl höchste Zeit«, kommentierte sie Walters erlöste Miene. »Du sahst etwas mitgenommen aus.«
Walter gab offen zu: »Mitgenommen?! Ich war kurz davor, Warnschüsse abzugeben! Wie gelingt es diesen Leuten, auch nur ein Lied einzustudieren?! Die sollten einfach mit ihren Sticheleien auf Tournee gehen, da hätten sie sicher großen Erfolg!«
Weil er gerade daran dachte, begann er nach seiner Dienstwaffe zu suchen und fand sie tatsächlich in
Weitere Kostenlose Bücher