Giftweizen
erster eigenständiger Befragung zufrieden.
»Sind die Fotos von den Elf Quellen schon da?«, fragte sie dann, und Lisa reichte ihr einen braunen Papierumschlag.
Beide gingen zum Besprechungsraum, um die Fotografien auszuwerten und die aussagekräftigsten aufzuhängen.
Wenig später klopfte Thomas Ritter an die weit offen stehende Tür. »Guten Morgen! Meine Fotos müssten hier sein. Dr. Renz möchte einen Blick drauf werfen.«
Der Gerichtsmediziner folgte ihm unmittelbar und dann kam Dr. Grede auch noch hinzu.
Sie gaben sich alle die Hand.
Interessiert überflog Renz die Aufnahmen vom Fundort der ramponierten Leiche. »Ein gutes Format«, lobte er die großen Abzüge. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch nicht den gestochen scharfen Abbildungen der Leichenteile. Er griff zu einer riesigen Lupe. Schweigend prüfte er eine Fotografie besonders; jeden Quadratzentimeter. »Das hier ist bemerkenswert«, meinte er dann, »zumindest in unserem Zusammenhang mit zwei Giftmorden. Sehen Sie hier diese Gruppe von Pflanzen, die mit den zart gefiederten Blättern? Das könnte Gefleckter Schierling sein. Ja, ich bin mir fast sicher.«
»Die Männer wurden mit Schierling vergiftet?«, fragte Judith Brunner sicherheitshalber nach.
Dr. Renz wollte sich noch nicht hundertprozentig festlegen. »Vielleicht. Ein Test wird da Klarheit bringen.« Doch dann fügte er hinzu: »Ich halte das aber durchaus für möglich, denn bisher hat der Täter es an Hinweisen beileibe nicht fehlen lassen: Er trennt Eduard Singer die Hände ab, was an sich schon ziemlich symbolträchtig ist, und drapiert sie so, dass sie ausgerechnet vom einzigen Mitwisser der Singerschen Vergeltung an Holl gefunden werden. Gleichzeitig taucht dieser Verbrecher, wie wir ja nun wissen, – vergiftet! – in der Pathologie des Krankenhauses auf. Alles nur zufällig? Niemals! Warum sollte er also den Leichnam des neuerlichen Unbekannten nicht neben der Mordwaffe, dem Schierling, ablegen? Ich finde, der Täter hinterlässt ziemlich deutliche Spuren.«
»Etwas vage, doch möglich ist alles«, räumte Hans Grede ein.
»Genau, und es kommt noch besser: Eine Schierlingsvergiftung würde exakt zum beschriebenen Krankheitsbild von Eduard Singer passen!«, gab Dr. Renz weiter zu bedenken. »Als er eingeliefert wurde, war sein Unwohlsein unerklärlich. Er hatte Gleichgewichtsstörungen, fühlte sich zu schwach zum Reden und wollte nur liegen. Und dann ist er recht plötzlich gestorben.«
Dr. Grede fragte konsterniert: »Sie meinen, der Singer könnte auch vergiftet worden sein?«
»Aus heutiger Sicht würde ich das nicht mehr ausschließen wollen. Allerdings habe ich das nicht überprüft. Außerdem weiß ich nicht, ob mir allein seine Hände hinreichend Untersuchungsmaterial bieten. Ich werde es auf alle Fälle probieren. Den Leichnam komplett vor mir zu haben, würde ich jedoch bevorzugen«, bekannte Dr. Renz.
Judith erinnerte sich an Botho Ahlsens’ Bemerkung zum Strychnin im Giftweizen und fragte den Rechtsmediziner: »Schmeckt man das Gift vom Schierling nicht?«
»Ach wo! Die Blätter und die Wurzeln bekommen Sie in einem deftig gewürzten Salat gar nicht mit. Oder ein kräftiger Schluck, zum Beispiel ein Kräuterlikör, tut es auch. Und dann dauert es nur noch ein wenig, bis die Opfer die Wirkung voll spüren. Die Vergiftung durch Schierling führt, so heißt es zumindest übereinstimmend in der Literatur, zu einem leichten Tod. Die Gliedmaßen werden taub und dann hören Herz und Lunge auf zu arbeiten. Die Betroffenen bewegen sich unsicher, werden einfach schlapp und fühlen sich müde. Irgendwann sterben sie dann. Das ist von der allgemeinen Konstitution, vom Gewicht und natürlich von der Giftmenge abhängig. Ich werde unsere Leichen nochmals gezielt daraufhin untersuchen.«
»Spricht ein leichter, sanfter Tod durch dieses Gift nicht gegen unsere Rachetheorie?« In Ritters Stimme klang fast ein wenig Enttäuschung.
»Nein«, antworteten Judith Brunner und Dr. Renz nahezu unisono, und der Rechtsmediziner fuhr erklärend fort: »Er spricht vor allem dafür, dass jemand sich in dem Metier gut auskennt. Es gibt bei Gift keine auffälligen Spuren im Umfeld der Leiche, es ermöglicht eine räumliche Distanz zum Opfer, oder man kann einen Zeitverzug einkalkulieren. Gift kann einem Täter – über ein schmerzvolles Leiden des Opfers hinaus – viele Vorteile bieten.«
»Hm«, Judith Brunner blickte unbewusst zu Lisa. »Wissen viele Menschen von der Giftigkeit dieser
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