Giftweizen
informieren. Immerhin obduzierte Dr. Renz in dessen Haus nun das zweite Mordopfer! Judith Brunner wollte auch künftig auf diese Möglichkeit einer Kooperation zurückgreifen können und hielt es deshalb für angebracht, Dr. Frederich wenigstens in groben Zügen über die Hintergründe ins Bild zu setzen. Außerdem konnte es auf keinen Fall schaden, sich auch persönlich für die prompte Lieferung der Liste zu bedanken, auch wenn er die Bestatter in der Aufstellung vergessen hatte und sie das jetzt nachfordern musste.
Frederich nahm die Mitteilung, dass seiner Pathologie ein Opfer eines Kapitalverbrechens untergeschoben worden war, recht gelassen hin. »Ich sagte es Ihnen ja schon, ein Krankenhaus ist mehr oder weniger ein offenes Haus. Sie können es nicht völlig verschließen. Warum auch? Besucher kommen und gehen, Patienten wollen vor die Tür, um zu rauchen, oder auch Mitarbeiter, wie soll ich das verhindern? Liefereingänge, Nebentüren, Notausgänge, das ist unmöglich alles zu kontrollieren. Wer da mit krimineller Energie rein oder raus will, findet immer eine Möglichkeit.«
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Kurz nach elf rief dann endlich Margit Leschke an. »Da haben Sie sich aber einen miesen Typ ausgesucht!«, teilte sie nach einer herzlichen Begrüßung mit. »Von dieser Sorte haben wir hier nicht viele.«
»Hoffen wir, dass es dabei bleibt«, meinte Judith.
»Also: Der Otto Holl hat im Zeitraum 1961 bis 1962 mindestens zwei Männer erschlagen und mehrere Menschen schwer verletzt. Er gehörte zu den Verbrechern, die den Leuten damals versprachen, sie auf geheimen Wegen im Wald über die Grenze in den Westen zu bringen. Stattdessen haben sie sie dann in einem vermeintlich sicheren Versteck überfallen und sich an deren Habseligkeiten bereichert. Da müssen sich schlimme Dinge abgespielt haben. Und wen sollten die Leute, wenn sie die Heimtücke überhaupt überlebt hatten, danach anzeigen? Sie selbst hatten ja eine Straftat geplant! Eine ganze Familie hat man – zumindest damals – nicht mehr finden können, Schicksal ungeklärt, steht in den Akten. Der Holl hat in der Verhandlung auch nicht ausgesagt, was aus der Familie geworden ist. Er hat kein einziges Wort gesprochen.«
»Mein Gott!« Judith war erschüttert. Sie hatte von vergleichbaren Fällen im Zusammenhang mit auf der Flucht befindlichen jüdischen Familien in der NS-Zeit gehört. Berüchtigt war das Handeln eines Arztes in Paris, der Juden, die eine Deportation befürchten mussten, versprach, sie heimlich ins Ausland zu bringen. Er ermordete in seinem Haus zahlreiche Menschen und eignete sich deren für die Flucht zusammengepackten Besitz an. Und einmal hatte ein tschechischer Fernsehkrimi in der Reihe »Die Kriminalfälle des Majors Zeman« eine ähnliche Geschichte aus der Zeit der Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Auch in diesem Fall hatte ein vermeintlicher Fluchthelfer in den Wäldern entlang der tschechischen Grenze die verzweifelten Menschen beraubt und ermordet ... Das Verhängnis geschlossener Grenzen trieb die Menschen zu jeder Zeit kriminellen Teufeln wie Holl in die Hände. Eine ganze Familie blieb unauffindbar? Judith schluckte. »Wie abscheulich!«
»Schlimm, nicht wahr?«, meinte Margit Leschke einfühlsam, »ich war auch erschüttert, als ich das zum ersten Mal las.«
»Wo genau hat der Holl damals sein Unwesen getrieben?«
»Im Harz, genauer wohl im Südharz. Dort wohnte Holl zu der Zeit, in einem Dorf bei Nordhausen.«
Das könnte erklären, warum seit der letzten Haftstrafe, die Laura Perch mit den hiesigen Akten hatte belegen können, nichts Weiteres mehr erfasst war. Offenbar hatte Holl es nach der Warnung durch Eduard Singer und Paul Ahlsens vorgezogen, seine Aktivitäten tatsächlich in eine andere Gegend zu verlegen.
»Steht da was über seine Vorstrafen? Wir haben ihn hier nur bis 1956 in den Akten.« Durchs Telefon konnte Judith Brunner hören, wie in der Akte geblättert wurde.
»Richtig«, bestätigte ihre Gesprächspartnerin, »da hat er acht Monate wegen Körperverletzung bekommen. Zwei Jahre später wurde nochmals gegen ihn wegen eines Raubs ermittelt, aber da ist ihm nichts nachzuweisen gewesen.«
Judith musste Laura im Stillen zustimmen. Die Ermordung dieses Mannes erwies sich als natürliche Todesursache! Solche Leute starben nicht im Bett.
Sie wunderte sich, wieso Holl seinerzeit nicht die Todesstrafe bekommen hatte. Immerhin war das Anfang der sechziger Jahre noch eher möglich als heute. Judith hatte zwar von
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