Giftweizen
belastbaren Gerüchten gehört, dass die Todesstrafe selbst für schweren Landesverrat in Kürze abgeschafft werden sollte, doch zu den Zeiten von Holls Untaten hätte es der Gesetzeslage nach eigentlich kaum eine Alternative zur Hinrichtung gegeben.
»Hat er allein gearbeitet?«, fragte Judith Brunner interessiert weiter.
Margit Leschke verneinte. »Damals ist ein Arnold Pfeiffer mit ihm verurteilt worden, auch zu fünfundzwanzig Jahren Haft. Man konnte die Raubmorde keinem der beiden exakt zuordnen, und da beide während der Verhandlung den Mund hielten, war es wohl unmöglich festzustellen, wer genau welches Verbrechen begangen hatte.«
Judith Brunner überlegte, dass hierin womöglich der Grund lag, dass keine Todesstrafe ausgesprochen worden war. Aber eigentlich konnte sie sich diese Anwandlung von Nachsicht bei den damaligen Richtern nicht recht vorstellen. Oder sollte die Tatsache, dass Holl und Pfeiffer »nur« Republikflüchtlinge überfallen hatten, Grund für das abgemilderte Strafmaß gewesen sein? Fand sich hier sogar ein völlig neues Mordmotiv? »Wann genau fiel das Urteil?«, wollte sie abschließend noch wissen.
Einem erneuten Blätterrascheln folgte die Auskunft: »17. April 1963. Nur drei Verhandlungstage. Über das Urteil war man sich offenbar rasch einig.«
Judith bedankte sich für die Hilfe und rechnete kurz nach. Die Untersuchungshaft mit eingerechnet, konnten – falls sie nicht aus irgendeinem Grund früher entlassen worden waren, und Judith konnte dafür angesichts ihrer Taten und ihrer Persönlichkeiten keinen plausiblen Grund erkennen – Otto Holl und Arnold Pfeiffer erst seit einigen Tagen in Freiheit gewesen sein.
~ 45 ~
Wachtmeister Stein nahm seinen Posten am Eingang heute besonders ernst. Walters Dienstausweis wurde von dem Mann geprüft, als müsse er ständig gefälschte Papiere aus dem Verkehr ziehen: Eine Lupe wurde gezückt, die Tischlampe herangerückt und Dreyer gebeten, sich besser ins Licht zu stellen. Der war so überrascht, dass er zunächst nicht daran dachte, Widerstand zu leisten. Dann gab er zu bedenken: »Ich bin nicht zum ersten Mal hier, das wissen Sie doch. Wir sind Kollegen. Sie kennen mich.«
Das focht Stein nicht an. »Ich habe hier die Verantwortung! Wenn’s brennt, weiß ich wenigstens Bescheid.«
»Worüber? Wieso sollte es brennen?« Sollte er sich wirklich auf eine Debatte mit Stein einlassen? Walter Dreyer wurde ungeduldig.
»Ich muss eine Liste führen, wer zu wem hinwill. Und wenn es brennt, können wir die dann suchen.«
Während Walter in Gedanken versuchte, sich einen Reim auf diese Informationen zu machen, hörte er ein erlösendes: »Besuch aus Waldau. Hallo!«
»Lisa! Sie schickt der Himmel! Ich hatte Erfolg mit den Skoda-Fahrern und dachte, ich gebe hier gleich einen Bericht ab. Und nun komme ich nicht an Ihrem Zerberus vorbei. Er will mich aus dem Feuer retten oder so.«
Lisa zwinkerte Walter zu und wandte sich dann über den Tresen lehnend, mit konspirativ leiser Stimme an Stein: »Ich verbürge mich für diesen Mann, Wachtmeister.« Dabei sah sie ihm unerschütterlich in die Augen. »Sie hatten eine Nachricht für die Hauptkommissarin?«, lenkte sie Stein dann auf seine Aufgaben zurück.
Die fragliche Mitteilung wurde zögerlich und mit skeptischer Miene übergeben, so, als müsste Stein überlegen, ob Lisa Lenz vertrauenswürdig genug war, sie zu überbringen.
Auf dem Weg zu Judiths Büro klärte sie Walter Dreyer auf: »Heute früh war Brandschutzbelehrung. Die war mal wieder fällig. Für den Fall eines Alarms und bei einer Gebäuderäumung muss natürlich bekannt sein, wer sich wo im Gebäude aufhält. Und Stein sollte einfach alle Besucher registrieren, wie immer.«
»Da hat er wohl etwas übertrieben!«, stellte Walter Dreyer erheitert fest.
»Die Chefin ist im Besprechungsraum. Ich bringe Sie hin«, bot Lisa an und klopfte nach wenigen Momenten an den Türrahmen. »Hier bringt jemand Neuigkeiten«, versprach sie.
Judith Brunner drehte sich um und lächelte ihren Besucher unverfänglich an; zumindest hoffte sie das.
»Und hier ist die Nachricht von Stein«, reichte Lisa ihr den sorgfältig auf wenige Quadratzentimeter Größe zusammengefalteten Zettel. Er war wie immer korrekt an »Hauptkommissarin Br.« adressiert, doch der zweizeilige Inhalt wäre erneut rätselhaft, wüsste Judith Brunner nicht, dass die Apothekerin ihr hatte mitteilen wollen, dass bei einer Inventur das Fehlen von Arzneimitteln festgestellt wurde: »APO
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