Giftweizen
irgendwie peinlich. Ich sollte den bestimmt nicht lesen. Sie hätte mir schon was gesagt, wenn ...« Jetzt merkte er, dass er seinen Argumenten selbst widersprach. »Ich bin ein Idiot!«, gab er kleinlaut zu.
Judith sah sich unauffällig um, war sich aber nicht sicher, ob nur Touristen im Lokal waren, und hielt vorsichtshalber weiter Distanz zu Walter. Ihr geflüsterter Tonfall war jedoch so intim, dass er sich augenblicklich besser fühlte: »Du weißt selbst, dass es viele Gründe geben kann, eine Liebe zu verheimlichen ... Laura wird sich dir schon anvertrauen, wenn sie die Zeit für gekommen hält.«
~ 46 ~
Im Polizeiarchiv fühlte Laura sich wieder in ihrem Element. Stundenlang und vor allem ungestört in alten Kriminalakten lesen zu können, war einfach großartig! Dass sie sich damit auch noch nützlich machen konnte, gab ihr ein gutes Gefühl. Gestern waren die Akten zu Holls Verbrecherkarriere dran gewesen, heute wollte sie nun versuchen, Judiths Spur zum vermeintlichen Serienmörder Berthold Lemke wieder aufzunehmen! Laura hoffte inständig, dass ihre neuen Recherchen auch so lohnend wie im Fall Holl sein würden.
Erst am späten Vormittag war sie mit der Vorsortierung der Akten fertig geworden und konnte mit der detaillierten Sichtung der aussortierten ungeklärten Fälle beginnen.
Könnten davon einige auf Lemkes Konto gehen? Es lagen drei ansehnliche Aktenstapel auf dem Tisch. Ohne eine Pause zu machen, setzte Laura sich hin und begann mit der Auswertung.
Zunächst ergaben die geprüften Akten der ersten Jahrgänge, also ab 1967, nichts direkt Auffallendes, von dem sie überzeugt war, auf eine Tat Berthold Lemkes gestoßen zu sein. Das schien ihr auch einleuchtend, denn wenn es so einfach gewesen wäre, ihm etwas zuzuordnen, dann hätte man es schon in der Vergangenheit getan. Kein Ermittler schloss gern eine Akte, bevor das Verbrechen geklärt war.
Lemke war jetzt dreiunddreißig Jahre alt, rief Laura sich ins Gedächtnis. Er hatte jedes Mal getötet, um ein für ihn akutes Problem zu lösen. Ihm erschien das als die unkomplizierteste Methode. Er machte es einfach! Die Frage war nun, wie lange er schon so wütete.
Laura las und las. Was es nicht alles gab! Einige Vermisstenfälle waren offen geblieben. Ein Raubüberfall auf den Konsum in Weteritz und einer auf die Filiale der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft in Gardelegen wurden nicht aufgeklärt. Da waren Verkehrsunfälle mit Fahrerflucht und auch mehrere schwere Körperverletzungen, bei denen die Angreifer nicht identifiziert werden konnten. Einige äußerst widerliche Fälle von Tierverstümmelungen an Zuchtvieh, die Ende der siebziger Jahre über mehrere Monate die Bauern in der Altmark stark beunruhigten, nahmen Laura sehr mit. Es war kein Täter ermittelt worden.
Nach fast vier Stunden intensiven Lesens blieben eigentlich nur zwei Verbrechen übrig, über die Judith als mögliche Taten von Lemke nachdenken sollte: ein Raubmord an einer Postzustellerin in Ackendorf im Jahre 1969 und, zehn Jahre später, eine schwere Körperverletzung bei einem Mann in Laatzke.
Die Postfrau war offenbar einem geplanten Raubüberfall zum Opfer gefallen. Sie wurde am helllichten Tag niedergestochen und ganz sicher nicht zufällig, denn es war ausgerechnet der Tag im Monat, an dem sie als Geldbriefträgerin den Leuten ihre Rente bringen wollte. In den sechziger Jahren bekamen, gerade in den ländlichen Gegenden, viele Menschen ihre Rente noch mit der Post, als Bargeld in einfachen Briefumschlägen.
Laura erinnerte sich, dass auch in Waldau die Postfrau ihren Großeltern pünktlich an jedem Monatsersten das Geld brachte.
Die Zustellerin führte eine Quittungsliste, die der Räuber nicht für wert erachtete, mitzunehmen; nach dem Überfall konnte man dadurch schnell feststellen, dass die Briefträgerin nur drei Auszahlungen hatte erledigen können. Es fehlten annähernd zweitausend Mark, für damalige Verhältnisse eine ansehnliche Summe, wenn auch kein Betrag, für den ein Mensch um sein Leben fürchten sollte. Erschreckend und für die Ermittler unerklärlich war vor allem die unnötige Brutalität der Tat. Die auf dem Bauch liegende Frau war mit zahlreichen Messerstichen in den Hals und Rücken umgebracht worden, obwohl ein Mord zur Verdeckung des Raubes womöglich gar nicht nötig gewesen war, denn nachdem der Täter sie vom Fahrrad gestoßen hatte, war die so schwer auf den Kopf gestürzt, dass sie zumindest benommen gewesen sein musste und ihn mit
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