Giftweizen
Papier geschrieben, lautete jedoch: »Aus technischen Gründen geschlossen«. Darunter war die offizielle Bestätigung mit Stempel und Unterschrift angepinnt.
Von der Schließung hatten sie schon von Brigitte Möbius erfahren, doch nun wurde Judith stutzig: »Das ist ja ein Ding!« Das Datum der Mitteilung belegte nämlich, dass die Schließung bereits vor fast zwei Wochen erfolgt war! Rasch sah Judith in ihren Notizen nach. Sie hatte sich richtig an Dr. Frederichs nachgelieferte Angaben erinnert. »Was hatte der Leichenwagen eines geschlossenen Bestattungshauses am Freitag vergangener Woche im Krankenhaus zu erledigen?«
Walter meinte: »Auf die Erklärung bin ich auch mächtig gespannt.« Doch weder auf sein lang anhaltendes Klingeln noch auf sein späteres energisches Klopfen wurde reagiert. »Niemand zu Hause«, konstatierte er.
Gemeinsam sahen sie sich um. Judith legte die Hände an die Schläfen und spähte durch die von innen verdreckte Eingangstür in den Ladenraum. Überall waren Spuren von Reparaturarbeiten zu sehen. Eine Wand war an mehreren Stellen aufgestemmt und Kabel hingen heraus. Außerdem lagen dicke Holzbretter und Rohre auf dem Fußboden. Die Handwerker waren allerdings nicht zu sehen. Judith sah auf die Uhr. War schon wieder Feierabend? Eigentlich nicht.
»Komm! Hier, das Tor ist unverschlossen«, hatte Walter bemerkt, und beide betraten durch die breite Einfahrt einen großen, gepflasterten Hof. Linker Hand deutete ein Schild auf die Nutzung des Seitengebäudes als Kühlraum hin und gebot, die Türen immer geschlossen zu halten. An der rechten Seite befand sich ein geräumiger Unterstand und hier war auch das Sargauto des Bestattungshauses abgestellt. Daneben stand ein kleiner, rostiger Pkw. Ein dritter Stellplatz war leer.
Walter Dreyer klinkte an der Fahrertür des schwarzen Leichenwagens, und tatsächlich – er war unverschlossen.
Judith Brunner hatte an der Hintertür des Geschäftes nochmals versucht, sich bemerkbar zu machen, doch auch hier erfolgte keine Reaktion.
»Was machen Sie da schon wieder?«, war plötzlich und vor allem unangenehm laut zu hören.
Walter und Judith sahen sich suchend um. Niemand war zu sehen.
»Hauen Sie bloß ab, sonst ruf ich doch noch die Polizei!«
Jetzt entdeckte Walter in einem offenen Fenster im ersten Stock des Nachbarhauses eine üppige Brünette in Unterwäsche, die, die nackten Arme auf ein buntes Kissen gelegt, ein nachmittägliches Sonnenbad nahm und ihre Zigarette bedrohlich schwenkte.
»Guten Tag!«, rief er ihr zu. »Wir sind von der Polizei.«
»Ach ja?!« Die Frau klang nicht überzeugt und nahm einen tiefen Zug.
Jetzt trat Judith in die Hofmitte und hielt ihren Dienstausweis in die Höhe. »Sie können ihm glauben. Würden Sie bitte zu uns herunterkommen und uns bei einer Ermittlung helfen?«
»Na gut. Mach ich«, versprach die Frau und erschien tatsächlich nach einigen Minuten auf dem Hof des Lindenlaub-Instituts. Sie hatte sich einen Trainingsanzug übergezogen, wirkte allerdings nicht sonderlich sportlich darin.
Judith begrüßte sie höflich: »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Ich bin Hauptkommissarin Brunner und das ist mein Kollege Dreyer. Und Sie sind ...?«
»Meingold. Sabine Meingold. Ich wohne da oben schon jahrelang. Mir entgeht hier nix. Vormittags gucke ich raus zur Straße, nachmittags hinten auf die Höfe. Hab extra zwei Kissen dafür.«
»Müssen Sie denn nicht zur Arbeit?«, war Walter Dreyer neugierig. Die Frau wirkte weder krank noch gebrechlich, schon gar nicht alt.
»Ich bin Hausfrau«, bekam er zur Antwort, »mein Mann ist auf Montage und bringt das Geld nach Hause; ich sorge für die Wohnung.«
»Aha.« Judith überlegte, wie viele Stunden täglich die Frau aus dem Fenster sehen mochte, fragte dann aber: »Wieso dachten Sie, wir sind schon wieder hier?«
Einen Moment brauchte Sabine Meingold, um den Sinn der Frage zu verstehen, dann hatte sie ihn aber begriffen: »Na, weil neulich schon mal jemand mit dem Leichenauto losmachte, obwohl der Laden zu ist.«
»Tatsächlich?«
»Könnse mir ruhig glauben, junge Frau. Da pass ich genau auf!«
Judith Brunner nickte bestätigend. »Oh. Ich wollte das auch gar nicht anzweifeln. Können Sie sich vielleicht noch erinnern, wann das war?«
Sabine Meingold brauchte nicht zu überlegen. »Freitag letzter Woche, das weiß ich ziemlich genau. Ganz früh morgens, es war fast noch dunkel. Mein Mann musste nämlich zeitig los auf ’ne neue Baustelle. Geflucht hat der, dass
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