Gilbert, Elizabeth
wirklich braucht. Um Gott zu erkennen, müsse man nur auf
eines verzichten: das Gefühl, von ihm getrennt zu sein. Ansonsten solle man der
Mensch bleiben, der man ist.
Was aber ist mein Charakter? Ich liebe meine Studien in
diesem Ashram, aber mein Traum, Gott zu finden, indem ich schweigend mit
sanftem, ätherischem Lächeln auf den Lippen durch den Ashram husche ... Wer
ist dieser Jemand eigentlich? Wahrscheinlich eine Figur, die ich mal im Fernsehen
gesehen habe. Jedenfalls finde ich es ein bisschen traurig, mir eingestehen zu
müssen, dass ich nie eine ätherische Gestalt sein werde. Seit jeher
faszinieren mich diese durchgeistigten, zarten Seelen. Immer wollte ich das
stille Mädchen sein. Wahrscheinlich genau deshalb, weil ich es nicht bin. Aus
demselben Grund, weshalb ich auch dichtes, lockiges Haar so schön finde - weil
ich es eben nicht habe, es nicht haben kann. Doch irgendwann muss man Frieden
schließen mit dem, was man hat, denn wenn Gott mich als schüchternes Mädchen
mit dichtem, lockigem Haar gewollt hätte, hätte er mich wohl so erschaffen.
Und deshalb sollte ich meine Beschaffenheit hinnehmen.
Oder, wie Sextus, der alte Pythagoräer, schon sagte: »Der
weise Mann bleibt sich stets gleich.«
Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht fromm sein darf.
Heißt nicht, dass die Liebe Gottes mich nicht völlig verwirren kann. Oder dass
ich der Menschheit nicht dienen darf. Dass ich mich als Mensch nicht weiter
verbessern, meine Tugenden entwickeln und täglich gegen meine Laster ankämpfen
kann. Zwar werde ich wohl nie zum Mauerblümchen werden, das muss aber nicht
heißen, dass ich meine Redegewohnheiten nicht einmal ernsthaft überprüfen und
sie - im Rahmen meiner Persönlichkeit - zum Besseren ändern kann. Ja, ich bin
eine Quasselstrippe, aber vielleicht muss ich nicht so viel fluchen, vielleicht
auch nicht immer auf jeden Kalauer schielen beziehungsweise ständig über mich
selbst reden. Vielleicht kann ich auch aufhören, andere beim Reden zu unterbrechen.
Denn hinter dieser Angewohnheit steckt letztlich die Auffassung: »Ich glaube,
mein Beitrag ist wichtiger als deiner.« Was im Grunde nichts anderes heißt als:
»Ich glaube, ich bin wichtiger als du.« Und das muss ein Ende haben.
All diese Veränderungen wären angeraten. Aber auch dann,
wenn ich meine Art zu reden auf vernünftige Weise modifiziere, wird man mich
wohl nie Das stille Mädchen nennen. Wie verlockend die
Vorstellung auch sein mag und wie sehr ich mich auch darum bemühe. Denn seien
wir mal ehrlich: Mit wem haben wir es hier eigentlich zu tun? Als die Frau im
Seva-Büro mir meine neue Aufgabe als »Chefhostess« zuteilte, sagte sie: »Sehen
Sie, wir haben einen eigenen Spitznamen für diejenige, die diesen Job macht.
Wir nennen sie >Little Suzy Creamcheese<, weil sie gesellig und übersprudelnd
sein und immer ein Lächeln auf den Lippen haben muss.«
Was sollte ich da noch sagen?
Ich streckte einfach die Hand aus, sagte meinen Wunschvorstellungen
stumm ade und erklärte: »Madam - zu Diensten.«
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Genau genommen wird meine Aufgabe als Chefhostess darin
bestehen, eine Reihe von Einkehrseminaren zu betreuen, die in diesem Frühjahr
im Ashram stattfinden sollen. Zu jeder dieser Veranstaltungen kommen etwa
hundert Anhänger aus der ganzen Welt, die für jeweils eine Woche bis zu zehn
Tagen ihre Meditationsübungen vertiefen wollen. Meine Aufgabe ist es, mich um
diese Leute zu kümmern. Die meiste Zeit werden die Teilnehmer schweigend
verbringen. Einige von ihnen werden Schweigen als religiöse Praxis zum ersten
Mal erleben. Ich aber werde die Einzige im Ashram sein, mit der sie reden
dürfen, sollte etwas falsch laufen.
Richtig - mein Job verlangt ganz offiziell von mir,
Anlaufstelle für alle zu sein, die reden müssen.
Ich werde mir die Probleme der Einkehrteilnehmer anhören
und versuchen, eine Lösung für sie zu finden. Ob jemand sein Zimmer wechseln
will, weil der Zimmergenosse zu laut schnarcht, oder wegen indienbedingter
Verdauungsprobleme einen Arzt aufsuchen muss. Vor allem werde ich mir merken
müssen, wie sie heißen und woher sie kommen. Ich werde mit einem Klemmbrett
herumspazieren, mir Notizen machen, Problemen nachgehen.
Und ... Aber ja doch, einen Piepser hab ich auch.
Als die Einkehrtage beginnen, zeigt sich rasch, wie sehr
ich für diese Aufgabe geschaffen bin. Ich sitze mit meinem Namensbutton am
Empfangsschalter, und aus dreißig verschiedenen Ländern treffen Leute ein, von
denen einige zwar
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