Gilbert, Elizabeth
Altgediente sind, viele aber noch nie in Indien waren. Schon
morgens um zehn steigt das Thermometer auf über vierzig Grad, und die meisten
waren die ganze Nacht in der Economy-Klasse unterwegs. Einige betreten den Ashram
und sehen aus, als wären sie gerade im Kofferraum eines Autos erwacht - als
hätten sie keine Ahnung, was sie hier eigentlich sollen. Was sie ursprünglich
dazu veranlasst hat, sich zu dieser Einkehr anzumelden, haben sie längst
vergessen, wahrscheinlich etwa um die Zeit, als ihr Gepäck in Kuala Lumpur
verloren ging. Sie sind durstig, wissen aber nicht, ob sie das Wasser hier
bedenkenlos trinken können. Sie haben Hunger, aber keine Ahnung, wann es
Mittagessen gibt oder wo sich die Cafeteria befindet. Sie sind völlig falsch
angezogen, tragen in der tropischen Hitze Synthetikstoffe und schweres
Schuhwerk. Sie wissen nicht, ob hier jemand Russisch spricht.
Ich kann ein bisschen Russisch ...
Ich kann ihnen helfen. Ich bin so gut zum Helfen gerüstet.
Alle Fühler, die ich zeit meines Lebens ausgestreckt habe, um die Gefühle
meiner Mitmenschen zu erspüren, all die Intuition, die ich als hypersensibles
jüngstes Kind entwickelt habe, all das Talent zum Zuhören, das ich mir als
mitfühlende Bardame und neugierige Journalistin angeeignet habe, all meine
Tüchtigkeit in Sachen Fürsorge, über die ich nach langjährigem Dasein als Frau
und Freundin von Männern verfüge - all das kommt mir nun zugute, so dass ich
diesen Leuten helfen und ihnen die bevorstehende schwierige Aufgabe
erleichtern kann. Ich sehe sie kommen - aus Mexiko und von den Philippinen, aus
Afrika, Dänemark, aus Detroit. Ich bin so erstaunt über ihren Wagemut. Diese
Leute haben für ein paar Wochen ihren Familien und ihrem Alltag den Rücken
gekehrt, um sich hier in Indien, umgeben von einem Haufen Fremder, ins
Schweigen zurückzuziehen.
Ich liebe diese Menschen - ganz automatisch und bedingungslos.
Sogar die Arschlöcher unter ihnen. Ich durchschaue ihre Neurosen und sehe,
dass sie furchtbare Angst haben vor dem, was ihnen in diesen sieben Tagen des
Schweigens und der Meditation bevorsteht. Ich liebe den Inder, der mir empört
berichtet, in seinem Zimmer befinde sich eine zehn Zentimeter hohe Statue des
indischen Gottes Ganesh, der ein Fuß fehle. Er ist stinksauer, hält es für ein
schlimmes Omen und will, dass die Statue entfernt wird - am besten von einem
Brahmanenpriester und in einer »entsprechenden traditionellen
Reinigungszeremonie«. Ich höre mir seine Beschwerde an, tröste ihn und schicke
dann meine kleine Freundin Tulsi in sein Zimmer, damit sie, während er zu Mittag
isst, die Statue entfernt. Am nächsten Tag drücke ich ihm einen Zettel in die
Hand, auf dem ich der Hoffnung Ausdruck gebe, dass er sich jetzt, da die
zerbrochene Statue weg sei, besser fühle, und ihm noch einmal versichere, dass
ich immer für ihn da sei; er ist erleichtert und belohnt mich mit einem
riesigen Lächeln. Er hat ja nur Angst. Angst hat auch die Französin, die wegen
ihrer Weizenallergie fast eine Panikattacke erleidet. Ebenso wie der
Argentinier, der sich eine Sondersitzung mit dem gesamten Personal der Hatha-Yoga-Abteilung
wünscht, um sich über die richtige Sitzhaltung bei der Meditation beraten zu
lassen, damit ihn das Fußgelenk nicht mehr so schmerzt. Alle haben sie Angst.
Sie begeben sich in die Stille, tief in ihre Gedanken und Seelen hinein. Bei
dieser Einkehr werden sie von einer wunderbaren Frau, einer fünfzigjährigen
Ordensschwester, begleitet, die mit jeder ihrer Gesten, jedem ihrer Worte
Mitgefühl ausdrückt, aber sie fürchten sich dennoch, denn - so liebevoll die
Nonne auch sein mag - dorthin, wohin sie gehen, kann sie sie nicht begleiten.
Das kann niemand.
Zu Beginn der Einkehr erhielt ich zufällig einen Brief von
einem Freund aus Amerika, der als Tierfilmer für National
Geographie arbeitet. Gerade sei er im New Yorker Waldorf Astoria bei
einem tollen Essen zu Ehren einiger Mitglieder des Explorer's Club gewesen,
erzählte er mir. Großartig sei es gewesen, sich in Gegenwart so unglaublich
mutiger Menschen zu befinden, die alle schon so viele Male ihr Leben riskiert
hätten, um die entlegensten und gefährlichsten Bergketten, Schluchten, Flüsse,
Meerestiefen, Eisfelder und Vulkane zu erkunden. Viele von ihnen hätten
Körperteile eingebüßt - Zehen, Nasen und Finger, die sie im Laufe der Jahre an
Haie, durch Erfrierungen und andere Unbilden verloren hätten.
»Nie«, schrieb er, »hab ich an einem Ort so
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