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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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kann man sie
dann festhalten? Kann man es, so ist es Seligkeit.
    Die gesamten Einkehrtage verbringe ich im hinteren Teil
des Tempels, wache über die Teilnehmer, während sie im Halbdunkel und in
völliger Stille meditieren. Denn meine Aufgabe ist es, für ihre Bequemlichkeit
zu sorgen, darauf zu achten, dass es ihnen an nichts fehlt. Für die Dauer der
Einkehr haben sie Schweigen gelobt, und ich spüre, wie sie jeden Tag tiefer
in dieses Schweigen eintauchen, bis der ganze Ashram von ihrer Stille
durchtränkt ist. Aus Achtung vor den Einkehrteilnehmern gehen wir nun alle auf
Zehenspitzen, nehmen schweigend unsere Mahlzeiten ein. Sogar ich halte den
Mund. Es herrscht eine geradezu mitternächtliche Stille, jene gedämpfte
Zeitlosigkeit, die man im Allgemeinen nur gegen drei Uhr morgens und bei
völligem Alleinsein erlebt - und doch wird sie am helllichten Tag befolgt, und
zwar vom gesamten Ashram.
    Ich habe keine Ahnung, was diese hundert Seelen denken
oder fühlen, während sie meditieren, aber ich weiß, welche Erfahrung sie
suchen, und bete um ihretwillen fortwährend zu Gott, treffe zu ihren Gunsten
seltsame Abkommen, wie etwa: Bitte schenk diesen wunderbaren
Menschen den Segen, den du vielleicht mir zugedacht hast. Ich habe
nicht vor, gleichzeitig mit den Teilnehmern zu meditieren; ich soll sie im Auge
behalten und mich um die eigene spirituelle Reise nicht sorgen. Aber ich merke,
wie ich auf den Wellen ihres gemeinsamen religiösen Strebens emporgehoben
werde, so ähnlich, wie manche Vögel sich von der Thermik tragen lassen, die
sie viel höher in die Luft reißt, als sie es mit der Kraft ihrer Schwingen
jemals geschafft hätten.
    Daher überrascht es wohl nicht, dass es während der Meditation
und in Ausübung meiner Chefhostess-Pflichten passiert. An einem
Donnerstagnachmittag, als ich im rückwärtigen Tempelteil sitze, werde ich
plötzlich durchs Portal des Universums getragen und auf Gottes Hand abgesetzt.
     
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    Als Leserin und Suchende haben mich Passagen in den Erinnerungen
anderer, die den Augenblick beschreiben, in dem sich die Seele aus Zeit und
Raum verabschiedet und sich mit dem Unendlichen vereint, stets frustriert. Vom
Buddha über die heilige Teresa von Avila bis zu den
Sufi-Mystikern und meiner eigenen Meisterin haben so viele große Seelen im
Laufe der Jahrhunderte versucht, wortreich zu erklären, wie es sich anfühlt,
mit dem Göttlichen eins zu werden - doch nie haben mich diese Schilderungen
zufrieden gestellt. Häufig wird, um das Ereignis zu beschreiben, auf das
ärgerliche Adjektiv »unbeschreiblich« zurückgegriffen. Doch auch die
eloquentesten Berichterstatter der religiösen Erfahrung - wie Rumi, welcher
schrieb, alle Bemühungen aufgegeben und sich an Gottes Ärmel geheftet zu haben,
oder Hafis, der sagte, er und Gott seien wie zwei dicke Männer geworden, die
auf einem kleinen Boot zusammenleben (»dauernd stoßen wir uns an und lachen«)
- haben mir etwas voraus. Ich will es endlich selbst spüren. Sri Ramana
Maharishi, ein indischer Guru, pflegte seinen Schülern lange Reden über das
transzendentale Erlebnis zu halten, die er stets mit der Anweisung schloss:
»Und jetzt kommt selbst dahinter.«
    Nun also bin ich dahintergekommen. Und will nicht sagen,
dass das, was ich am Donnerstagnachmittag erlebte, unbeschreiblich war, obwohl
es das natürlich war. Trotzdem will ich versuchen, es zu erklären. Ich wurde -
einfach ausgedrückt - durch das Wurmloch des Absoluten gezogen, und in dieser
rasenden Bewegung habe ich das Wirken des Universums plötzlich vollkommen verstanden.
Ich verließ meinen Körper, verließ den Raum, verließ den Planeten, ich schritt
durch die Zeit und trat in die Leere ein. Ich war in der Leere, war die Leere und betrachtete die Leere, alles zur sel ben Zeit. Die
Leere war ein Ort grenzenlosen Friedens und unendlicher Weisheit. Sie war
bewusst und intelligent. Sie war Gott, so dass ich mich im Innern Gottes
befand. Aber nicht auf eine grobe, physische Weise - nicht, als wäre ich Liz Gilbert,
die irgendwo in Gottes Oberschenkel steckt. Ich war schlicht und einfach ein
Teil von Gott. Außer, dass ich auch noch Gott war. Ich war sowohl ein winziges
Stück des Universums als auch genauso groß wie dieses. (»Jeder weiß, dass der
Tropfen im Ozean verschwindet, aber nur wenige wissen, dass der Ozean im
Tropfen verschwindet«, schrieb der Weise Kabir - und ich kann jetzt persönlich
bezeugen, dass es stimmt.)
    Mein Gefühl hatte nichts mit Halluzinationen

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